© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/00 25. Februar 2000

 
Literatur: Der Schriftsteller Heinrich Schirmbeck feierte seinen 85. Geburtstag
Geheimnisvoll und widersprüchlich
Rolf Stolz

Heinricht Schirmbeck, Dichter und Wissenschaftspublizist, in Recklinghausen 1915 geboren, vollendete am 23. Februar 2000 sein 85. Lebensjahr. Er fehlt in keinem Konversationslexikon und in kaum einer Übersicht über die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, dieser namhafte Unbekannte – und doch haben die meisten allenfalls seinen Namen gehört.

Seine zahlreichen Erzählungen, bei aller Orientierung an klassischen Stilmuster und romantischen Themen in ihrer Mischung aus Düsternis und Ironie, aus Spannung und Gefühl völlig eigentümlich, seine beiden großen Romane "Ärgert dich dein rechtes Auge" (1957) und "Der junge Leutnant Nikolai" (1958, 1969), seine Essays (u. a. das 1966 erschienene epochale Werk "Ihr werdet sein wie Götter. Der Mensch in der biologischen Revolution") und das halbe Tausend seiner Radiovorträge haben ihm Preise und Akademiemitgliedschaften eingetragen, darunter 1995 die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Mainzer Akademie für Wissenschaft und Literatur. Im Ausland fand vor allem sein erzählerisches Hauptwerk "Ärgert dich dein rechtes Auge", das in viele Sprachen übertragen wurde, große Beachtung.

Das Leben Heinrich Schirmbecks verläuft bei allen Brüchen eher unspektakulär: Als Sohn eines Bahnangestellten wächst er im proletarisch geprägten Recklinghausen-Süd auf. Der Schüler, der 1929 als Vierzehnjähriger für sein besonderes demokratischen Engagement eine Urkunde der sozialdemokratischen Reichsregierung zum zehnten Jahrestag der Weimarer Verfassung bekommt, wird 1933 von den Nazis mehrere Wochen in einem Umerziehungslager interniert. Nach dem Abitur 1934 wird ihm aus politischen Gründen die Zulassung zum Studium verweigert. Er beginnt eine Buchhändlerlehre. Nach deren Abschluß arbeitet er als Journalist und ab 1939 als Werbeleiter der Frankfurter Zeitung. Auch als Soldat (ab November 1940) setzt er die Mitarbeit an dieser dem "inneren Widerstand" verpflichteten Publikation fort – bis zu deren von Hitler angeordneter Einstellung Ende Juli 1943. 1938 beginnt der bis 1954 fortgeführte Briefwechsel mit Peter Suhrkamp, der 1944 bzw. 1947 in seinem Verlag die beiden ersten Bücher Schirmbecks, die Novellensammlung "Die Fechtbrüder" und die romanhafte Erzählung "Gefährliche Täuschungen", herausgibt. Kurz vor Kriegsende desertiert der Pazifist Schirmbeck aus Hitlers Wehrmacht – eine Erfahrung, die er in der Erzählung "Die Flucht" eindrucksvoll gestaltet. Nach dem Krieg arbeitet er als Journalist und als Werbeleiter bei verschiedenen Zeitungen, seit 1952 als freier Schriftsteller. Nach langen Jahren im Südwesten der Bundesrepublik und in Frankfurt am Main lebt er seit 1967 auf der Darmstädter Rosenhöhe.

1980 bzw. 1982 kommt zum vorerst letzten Mal in einem großen Verlag ein Buch von ihm heraus: der bei Claassen und später noch einmal als Ullstein-Taschenbuch veröffentlichte Erzählungsband "Die Pirouette des Elektrons". In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren ist Heinrich Schirmbeck weitgehend ein Autor ohne lieferbare Bücher – sieht man von der quasi im Selbstverlag erschienenen Dokumentation "Für eine Welt der Hoffnung" (1988) ab. Ende der siebziger Jahre wird es still um den Autor, der sein literarisches Lebenswerk als abgeschlossen ansieht und sich immer stärker den existentiellen Anliegen der Menschheit zuwendet – den großen Fragen von Krieg und Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, der humanen Verantwortung für das Leben in allen seinen Formen. Seine vielfältigen öffentlichen Initiativen nehmen dabei Leitmotive auf, die ihn bereits in den fünfziger Jahren in seinen beiden großen Romanen bewegt hatten: Immer noch beschäftigt ihn der Konflikt zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen Weltveränderung und Wertverteidigung, zwischen einer bis zur Erkenntnissucht pervertierten Erkenntnissuche und dem schöpferischen Glauben des Künstlers an die Schönheit und Wahrheit uralter Werte.

Als in den fünfziger und sechziger Jahren die Ökologie ein ebenso unbekanntes wie ungebräuchliches Fremdwort war, hat Heinrich Schirmbeck bereits vor der Hybris und der Selbstzerstörung einer die technische Machbarkeit vergötternden Moderne gewarnt. Immer wieder hat er seither unzeitgemäße, aber äußerst zukunftsträchtige Streitfragen aufs Tapet gebracht – ob es um die Überwindung der innerdeutschen Konfrontation durch konföderative Ansätze, um eine fundierte Kritik der amerikanischen Golfkriegspolitik oder um Widerstand gegen die geistfeindlichen Mord- und Haßorgien der iranischen Mullah-Diktatur ging. Er war immer für unkonventionelle, vorläufig nicht mehrheitsfähige Gedanken gut – so 1983 in seinem vehementen Plädoyer für einen Friedensvertrag und für den Abzug der fremden Truppen aus Deutschland.

Seit dem Ende der zwanziger Jahre, seit der Verwüstung der deutschen Kultur durch den nazistischen Ungeist, durch Vertreibung, Exil und die anschließende Verweigerung einer kulturellen Repatriierung aller Exilschriftsteller hat Deutschland nur noch wenige Autoren von europäischer und weltliterarischer Bedeutung aufzuweisen. Angesichts dessen ist im Falle Schirmbecks das Nicht-Wahrnehmen eines schwierigen Autors nicht allein ein bedauerlicher Verlust, sondern zugleich ein Hinweis auf strukturelle Defekte des öffentlichen Bewußtseins. Ein auf Distanz und Autonomie bedachter Autor wie er, keiner Schule und keiner kulturpolitischen Seilschaft angehörig, bei allem Parteiergreifen parteifrei bis prinzipiell parteifeindlich eingestellt, hat es in einer auf Konformismus und politische Korrektheit eingeschworenen Gesellschaft ohnehin schwer genug, sich durchzusetzen und nicht totgeschwiegen zu werden.

Hinzu kommt: In einer vom Markt und seinen Tendenzen zu Monopolisierung und Uniformierung geprägten Kultur-landschaft ist es für die bedingungslos auf Erfolg und Ruhm programmierten Schnellschreiber von größter Wichtigkeit, in Übereinstimmung mit den jeweils aktuellen Trends als plastisch-elastischer Wellenreiter des Zeitgeistes obenauf und in Mode zu bleiben. Daß Heinrich Schirmbeck es an dieser flinken Flexibilität hat fehlen lassen, steht außer Zweifel. Mehr noch, er hat den Vermarktungsstrategen nie die Freude gemacht, eine eindeutige und einfach handhabbare Produkt-Identität zu liefern. Immer ist er dem Geheimnisvollen, Zwiespältigen, Widersprüchlichen treu geblieben – mit dem Ergebnis, daß er schon immer den Neuerern zu altmodisch und unspektakulär, den Konservativen zu unkonventionell und rebellisch war.

Wer Modernität mit Geschichtsblindheit und mit Voraussetzungslosigkeit verwechselt, der wird Heinrich Schirmbeck wegen seiner klassisch-kunstvollen Sprache, seiner Vorliebe für historische Themen, seiner Ablehnung formalistischer Spielereien als künstlerisch belanglosen Nachahmer und Epigonen abtun, der nur wiederholt, was andere längst besser vorgemacht haben. Andererseits verübeln ihm die Prediger heiler Kunst-Welten und eines angeblich ewig-unabänderlichen Kanons von Kunstregeln seine politischen Bekenntnisse und seine Bereitschaft, sich mit all den neuen Entwicklungen in der Lebenswelt und in den Wissenschaften auseinanderzusetzen und daraus Kunst zu destillieren. So geriet Schirmbeck zwischen alle Fronten, wurde sowohl von den selbsternannten Avantgarde-Hohepriestern als auch von den ebenso bornierten Abendlandpflegern als Gegner bzw. als Unperson behandelt.

Dieser Seher, Mahner und Warner sollte uns (und auch seinen Gegnern) noch lange erhalten bleiben. Spät, aber noch nicht zu spät können ihm die Leser, die Literaturkritiker und die Germanistikprofessoren ihren Dank abstatten, daß er die schwierige Existenz des zeitweise halb vergessenen Außenseiters, des Grenzgängers und Wegsuchers, des Vorläufers und Voraussehers auf sich genommen hat.

 

Rolf Stolz lebt als Schriftsteller in Köln. Er hat 1995 eine zweibändige Auswahl aus dem erzählerischen Werk Heinrich Schirmbecks und aus den Veröffentlichungen über ihn unter dem Gesamttitel "Der Grenzgänger" herausgegeben (Verlag Landpresse, Weilerwist, zus. 300 S., 20 DM). Der erste Band ("Gesang im elektrischen Stuhl") enthält eine Auswahl von zum Teil noch unveröffentlichten Erzählungen sowie einige Kapitel aus den vergriffenen Romanen. Der zweite Band ("Orpheus im Laboratorium") bringt Analysen des Gesamtwerkes Schirmbecks und einzelner seiner Bücher aus der Feder bekannter Persönlichkeiten wie Robert Jungk, Fritz Usinger, Hermann Pongs.


 
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