© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/00 25. Februar 2000

 
Umweltkatastrophe: Die Theiß ist durch Zyanid für Jahre biologisch tot
Tschernobyl der Puszta
Péter Herter

Die Theiß ist tot" stand auf dem Plakat der Demonstranten, die in der Weinstadt Tokaj auf die Theiß-Brücke zogen. Der Blick auf die umliegende Gegend war schockierend: wie eine Mondlandschaft, kein Leben weit und breit im und am zweitgrößten Fluß Ungarns, tote Fische schwammen mit der Strömung Richtung Serbien, an beiden Ufern lagen Vogelkadaver herum. Experten erinnerten an die Sandoz-Katastrophe der 80er Jahre am Rhein mit der Bemerkung, das Ausmaß jener sei nicht mit dem der heutigen zu vergleichen. Das tödliche Gift kam aus Rumänien: Am 30. Januar flossen etwa 100.000 Kubikmeter schwermetallhaltige Schadstoffe mit hochgiftigen Zyaniden aus der australisch-rumänischen Goldmine "Aurul" nahe der Stadt Baia Mare in den Theißzufluß Somes. Das Gift erreichte am 2. Februar Ungarn und vernichtete jegliches Lebens, nicht nur im Fluß: alle Fische verendeten , aus ihrem Aas gerät das Zyanid in die Nahrungskette fischfressender Vögel und anderer Tiere. Speziell die seltenen und geschützten ungarischen Flußadler, die in den siebziger Jahren kurz vor dem Aussterben standen, sind existenziell bedroht. Das verseuchte Wasser gefährdet auch Insekten: die Tiszavirág (Theißfliege) ist wichtiger Proteinlieferant, ihr droht massenhafte Vernichtung. Otter und Fuchs sind ebenfalls bedroht, das Gift verseucht das Grundwasser und gelangt so in die Flora. Die ungarische Tiefebene ist ein Wassermangelgebiet, nun ist das knappe Gut verseucht.

Mit dem Fluß ist auch ein Mythos für lange Jahre untergangen: die Theiß mit ihrem "blonden", sandigen Wasser, voll kleiner Windungen war für die ungarische Seele schon immer ein Symbol der Freiheit, der Liebe und der Romantik. Sándor Petõfi – der ungarische Heine, und im Freiheitskrieg 1848-49 jung verstorbene Romantiker – besang die magische Ausstrahlung des Flußes in seinem Epos "Die Theiß", wie auch Nikolaus Lenau, der österreichische Dichter, den geheimnisvollen Fluß der ungarischen Tiefebene zum Thema des Gedichtes "Mischka an der Theiß" machte. Die ökonomischen Folgen des "Tschernobyls aus Rumänien" sind unabsehbar. Hunderte Fischer haben bereits ihren Lebensunterhalt verloren, der ungarische Staat kann nur wenig helfen. Der Fremdenverkehr – wichtiges Standbein der Region – droht zusammenzubrechen, die Theiß war beliebt für Kanutouren, der Angeltourismus hat sich erledigt. Die Wasserversorgung der Großstädte ist glücklicherweise nicht gefährdet, die Trinkwasserbasis von Debreczin oder Szegedin liegt 200-500 Meter unter der Erde. Das Naturschutzgebiet Hortobágy – die ungarische Puszta – kann jedoch zum nächsten Opfer des Zyanids werden, wenn die Giftbrühe – wie in den letzten Jahren regelmäßig passiert – die tieferliegende Region überschwemmt. Budapester Ministerialbeamte rechnen mit einer vollkommenen Regenerierung des Gebietes in frühestens zehn Jahren, die Wiederherstellung der Vegetation wird in vier Jahren erhofft.

Auch die schlimmsten Katastrophen haben Nutznießer: Kriminelle stahlen Fischkadaver aus den Sammelcontainern, worauf sich die Fischverkäufe auf den Märkten in ganz Ungarn blitzschnell halbierten. Die Theißkatastrophe sorgte auch für innenpolitische Kontroversen: Der konservative Umweltministers Pál Pepó wurde von seinem sozialistischer Amtsvorgänger Ferenc Baja wegen Verzögerung verschiedener Ausschußberatungen und mangelnder gegenseitiger Umweltschutzverträge mit Rumänien zum Rücktritt aufgefordert. Die rechtskonservative Wochenzeitung Magyar Fórum sieht die Theiß als Opfer der Globalisierung: Transnationale Unternehmen siedeln umweltgefährdende Technologien in Ländern wie Rumänien an, weil dort die gesetzlichen Schranken niedriger sind, und wegen der aus kommunistischen Zeiten übernommenen wirtschaftlichen Misere jeder Investor ohne Widerstand akzeptiert wird.

Ungarns Regierung will unterdessen Schadenersatz von der australischen Mutterfirma und vom rumänischen Unternehmen fordern. Regierungschef Viktor Orbán will auch einen Prozeß gegen den rumänischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof einleiten. Die Giftflut vergiftet daher auch die ohnehin historisch belasteten Beziehungen zwischen Budapest und Bukarest. Die rumänische Presse beklagt die Übertreibung der Katastrophenfolgen und sieht eine Kampagne am Werk. In Ungarn erregen sich die Gemüter wirklich: Unbekannte bewarfen die Fenster der rumänischen Botschaft in mit Heringskonserven.


 
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