© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/00 18. Februar 2000

 
Populismus
von Alain de Benoist

m Laufe der letzten Jahre haben die Medien der Reihe nach so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Boris Jelzin, Jean-Marie Le Pen, Jörg Haider, Bernard Tapie, Umberto Bossi, Wladimir Schirinowski, Alexander Solschenizyn, Ronald Reagan, Carlos Menem, Lech Walesa und Pat Buchanan als Populisten eingestuft. Diese Tatsache allein zeigt die außerordentliche Verwirrung, die diesen Begriff umgibt: Der Populismus ist zu einer Art Gummibegriff geworden, dessen man sich je nach Ausdeutung zu bedienen scheint.

Aber er ist auch eine Formel, die man vor allem benutzt, um zu diskreditieren oder zu disqualifizieren. Seine gebräuchlichsten Anwendungen finden sich im Bereich diskursiver Polemik, in Stereotypen verpackt: populistische Gefahr, populistische Versuchung, populistische Schlußfolgerung, etc. Glaubt man denen, die ihn stigmatisieren, so definiert sich der Populismus durch seine allgemeine Anziehungskraft, ohne Kohärenz oder eigenständige Weltsicht, ohne einen anderen Inhalt als den von ihm selbst produzierten Effekt. Der populistische Leader sei entweder ein Demagoge, der Strohfeuer entfacht und den aktuellen Frustrationen und Anforderungen nichts als simplistische Lösungen und Protestslogans entgegenstellen kann; oder er sei ein Faschist, mehr oder weniger getarnt, der auf konfuse Art eine antidemokratische Botschaft verbreitet. Von Natur aus demagogisch, enthalte der Populismus den Keim der Diktatur.

Es gibt natürlich eine ganze Bandbreite von Populismen, für die gewisse Autoren im übrigen ganz eigene Typologien entwickelt haben. Diese Bandbreite hat gelegentlich den Gedanken geschürt, demzufolge der Populismus nicht so sehr eine Ideologie oder eine politisches System darstellt, sondern eher einen Stil, eine Stimmung, die anfällig ist dafür, sich mit egal welcher politischen Doktrin zu verbinden: autoritärer Populismus, Nationalpopulismus, liberaler Populismus, der Populismus der extremen Linken, etc. Die Ideengeschichte zeigt jedoch, daß man in den Wurzeln des Populismus eine gewisse Anzahl von ganz präzisen politisch-ideologischen Angeboten findet, die herzlich wenig an das erinnern, was man allgemein als Populismus bezeichnet, und zeigt weiter, daß die überwiegende Mehrzahl der Populismen, die in den Medien so katalogisiert werden, schlichtweg keine sind.

Der Populismus ist in Wirklichkeit ein System politischer Gedanken, das über ganz eigene Bezüge zur Geschichte und zur politischen Lehre verfügt. Er hat seine Wurzeln in den geistigen Strömungen (die sowohl in Europa als auch in Rußland oder den Vereinigten Staaten auftauchten), die das Leben in der Gesellschaft auf der Bürgerpflicht begründeten, der Verantwortung der Staatsbürger und den Gemeinwerten.

Die erste Bedingung für die Entstehung des Populismus ist eine politische Legitimationskrise, die das gesamte klassische System politischer Repräsentation betrifft. In dieser Hinsicht besitzt der Populismus eine ausgesprochen anti-elitäre Grundlage, die die Fähigkeit der politischen, administrativen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten in Frage stellt, die Probleme des täglichen Lebens zu regeln. Das Wiederaufleben des Populismus stellt vor allem eine Reaktion dar, die sich als emanzipatorisch gegen die Neue Führungsschicht sieht, die je nachdem als bürokratisch, ineffizient, machtlos, korrumpiert gesehen wird, als abgehoben von der Alltagsrealität und als das Volk seiner Fähigkeit zur Initiative beraubend.

Parallel dazu stellt der Populismus eine Reaktion auf die Auflösung sozialer Bindungen dar, verursacht durch den zunehmenden Individualismus, der die alten organischen Gemeinschaften zerstört hat, und durch die Herrschaft des Wohlfahrtsstaates, der, um natürlicher Solidarität entgegenzuwirken, einen Großteil der Bürger ihrer Verantwortung enthoben hat und sie dadurch in Hilfsbedürftige verwandelt hat.

Schließlich gelangt der Populismus zu neuer Aktualität aufgrund der Krise des Nationalstaats und durch den Zusammenbruch des fordistischen Kompromisses, der es fast ein ganzes Jahrhundert lang gestattet hatte, sozialen Frieden im Austausch gegen den wachsenden Wohlstand des Mittelstandes zu erkaufen. Die Krise des Nationalstaats drückt sich heute durch eine zweifache Einschränkung seiner Souvernität aus: Einschränkung von oben durch das Phänomen des sozialen Aufschwungs und durch die Zwänge transnationaler Strukturen, die sich aus der Globalisierung ergeben; und Einschränkung von unten durch das Aufblühen neuer sozialer Bewegungen, durch die Identitätsansprüche und gelegentlichen Rivalitäten ethnischer Gruppen.

Die Frage, in welchem Maße der Populismus ein demokratisches Phänomen ist, hängt von der Definition von Demokratie ab. Die liberalen Theoretiker waren von jeher geneigt zu denken, daß es die Institutionen und nicht die Fähigkeiten und der Charakter der Staatsbürger sind, die Demokratie funktionieren lassen. In der liberalen Spielart von Demokratie ist die öffentliche Meinung notwendigerweise inkompetent und schlecht informiert. Die Schlußfolgerung, die man daraus zieht, ist, daß die Entpolitisierung keine schlechte Sache ist, und daß es besser ist, die Regierung in den Händen von Fachleuten zu lassen. In dieser Vorstellung wandelt sich die Politik in bloßes Management und Expertise, und die Demokratie ist nichts weiter mehr als ein einfaches Rekrutierungssystem von Staatslenkern, und hört gleichzeitig auf, ein Regime der Verantwortungsübernahme, der Autonomie und der Teilnahme zu sein.

In ihrem Wesen hauptsächlich repräsentativ, schränkt die liberale Demokratie die Souveränität des Volkes gravierend ein und verhindert, wirkliche Übereinstimmung zwischen den Ansichten von Regierenden und Regierten zu erreichen. Der Schwerpunkt der Macht ruht nicht länger im Volk sondern in den Repräsentanten und ihren Parteien. Die politische Klasse neigt dazu, eine Oligarchie von Berufspolitikern heranzubilden. Im Augenblick ist die Demokratie vom Entstehen einer Gesellschaft von zweierlei Gangart bedroht, von einer sich ständig weitenden Kluft zwischen einer neuen Klasse, die sich um die Privilegierten der Moderne und die Funktionäre der dominanten Ideologie gruppiert, welche die Vorteile von Geld und Macht monopolisieren, und den Bevölkerungsklassen, die systematisch zur Zerstreuung, aber auch zum sozialen Abstieg und zur Armut getrieben werden.

Die Demokratie geht von einer vorstaatlichen Existenz aus, das heißt, einer politischen und sozialen Gemeinschaft. Wie Christopher Lasch schreibt, sind es nicht die Individuen, die die Grundeinheiten einer demokratischen Gesellschaft ausmachen, sondern die Gemeinschaften, die sich selbst regieren. Es ist der Niedergang der Gemeinschaften, der mehr als alles andere die Zukunft der Demokratie bestimmt. Hannah Arendt hat ihrerseits klar gezeigt, daß es die Staatsbürgerschaft ist, die Gleichheit zuweist, und nicht die Gleichheit, die das Recht der Staatsbürgerschaft hervorbringt. Die Demokratie ist nicht das Regime, das dafür sorgt, daß die Rechtsgleichheit auf einem Postulat individueller Identität beruht; sie ist das Regime, das sicherstellt, daß die Glieder ein und derselben politischen Einheit die gleichen Rechte haben müssen, weil sie gleichberechtigte Staatsbürger sind.

Schließlich braucht die Demokratie eine pluralistische Debatte, die den friedlichen Austausch zwischen grundverschiedenen Meinungen und Ideen, die offen aufeinandertreffen, erlaubt. Gleichzeitig braucht sie breitestmögliche Teilnahme als Grundvoraussetzung dafür, daß die Debatte nicht ausschließlich Experten und Technokraten vorbehalten bleibt. Genau dieser Anspruch ist es, den der Populismus formuliert. Die Liberalen weigern sich zuzugeben, daß unsere heutige Demokratie sehr viel mehr durch Gleichgültigkeit und Abkehr der Bürger bedroht ist als durch Intoleranz und Aberglauben. Der Populismus meint im Widerspruch dazu, daß maximale Demokratie einhergeht mit maximaler Teilnahme der Bürger an öffentlichen Angelegenheiten.

Ohne trotz alledem die repräsentative Demokratie völlig abzulehnen, favorisiert der Populismus jedoch eher die partizipatorische Demokratie. So oft wie möglich mahnt er eine direkte Demokratie an, die ihre Wurzeln in aktiven Staatsbürgerschaft und der Schaffung oder Wiedererschaffung von öffentlichen Räumen der Begegnung hat. Er privilegiert die kleinen Gemeinschaften, nicht aus einem Verlangen nach Abgrenzung oder Rückzug in sich selbst heraus, sondern weil sie es dem einzelnen eher erlauben, an der Debatte und an Entscheidungen teilzuhaben.

Der Hauptvorteil der partizipatorischen Demokratie ist es, die Verzerrungen, die sich durch die Repräsentation ergeben haben, zu korrigieren und eine bessere Übereinstimmung zwischen dem Willen des Volkes und dem Gesetz zu gewährleisten. Sie allein erlaubt es, ein Miteinander von sozialen Beziehungen wiederherzustellen, die charakteristisch sind für eine organische Gesellschaftsordnung, ohne welche die Demokratie nichts ist als eine einfache Reihung formeller Prozeduren.

Der Populismus betrachtet Autonomie als das Grundprinzip des politischen Lebens. Eine solche Ansicht ist von ihrer Natur aus der Diktatur gegenüber feindselig eingestellt. Sie gründet sich auf dem Prinzip der Zuordnung, das dafür sorgt, daß die Handlungsfähigkeit der Basis aktiviert wird und daran festhält, daß alle sozialen Schichten die sie selbst betreffenden Angelegenheiten entscheiden können müssen und nur die Entscheidungen, die zu treffen sie keine ausreichende Kompetenz besitzen, einer höheren Ebene zu übertragen. Für die Populisten beinhaltet Demokratie ein gegenseitiges Vertrauen, das nur auf gegenseitigen Respekt gegründet sein kann, dem Sinn für Gemeinwohl und gemeinsame Werte. Aus diesem Grund lehnt der Populismus sowohl die Privatisierung der Moral ab als auch das Postulat der Neutralität in der Frage der Werte, an die sich der Liberalismus hält. Aus demselben Grund lehnt er allzu deutliche Ungleichheiten ab, die er als Widersacher des Gemeinwohls und Zerstörer des sozialen Zusammenhalts ansieht.

Der Populismus wendet sich also gegen die Logik des Marktes und gegen den Wohlfahrtsstaat. Er lehnt die Alternative zwischen Markt und Staat klar ab, und sei es nur, weil er sehr gut weiß, daß der Staat sich in seiner Helferfunktion mehr und mehr ausbreitete, weil und sobald er zur Entflechtung der Gemeinschaften beitragen mußte, die sich der Logik des Marktes folgend gebildet hatten. Dem Prinzip des Mitleids, typisch für den Vorsorgestaat, stellt er das Prinzip des Respektes, der Anerkennung und der Verantwortung gegenüber. Den liberalen Prinzipien des formellen Individualismus, der instrumentell-bürokratischen Rationalität und der Wertneutralität stellt er die Gedanken der Bürgerpflicht, der gegenseitigen Solidarität, der moralischen Pflicht und der Gemeinschaftswerte gegenüber.

Weder die Präsenz eines charismatischen Leaders noch die symbolische Ausbeutung eines Identitätsmythos, noch die Fremdenfeindlichkeit gehören zum Wesen des Populismus. Obendrein ist der Populismus nicht von sich aus nationalistisch. Er stellt vielmehr eine kraftvolle Reaktion gegen zentralistisches Staatsdenken und die Allmacht der Fachleute dar; er beinhaltet vielmehr den kulturellen Pluralismus sowie den Lokalismus. Indem er sich mit dem Kommunitarismus verbindet, reagiert er auf die Krise des Nationalstaats und beschwört die Wiederbelebung der Lokalgemeinschaften, versehen mit starker politischer und kultureller Autonomie.

Der Populismus erinnert schließlich daran, daß in der Demokratie die Souveränität des Volkes ein unantastbares Prinzip ist. In diesem Sinne drückt er die Ablehnung einer Ideologie aus, die dazu neigt, die Demokratie nur bedingt zu akzeptieren, das heißt, solange die Entscheidungen des souveränen Volkes nicht in Konflikt geraten mit höheren Prinzipien, welche ihrerseits demokratisch nicht gerechtfertigt werden müssen.

Die gegenwärtige Verunglimpfung des Populismus, zu der die Medien beitragen, zeigt genau, in welchem Maße sich die vorherrschende Meinung verbreitet hat. Es gab jüngst genügend Beispiele für diese Einstellung. Die Entrüstung gewisser Länder nach dem Eintritt der Partei von Jörg Haider in die österreichische Regierung, die Art und Weise, in welcher die abendländische Meinung die Aussetzung des Wahlprozesses in Algerien aus dem Grund billigte, daß die Islamisten die Wahl aller Wahrscheinlichkeit nach gewinnen würden, die Art und Weise, in der man akzeptiert hat, daß ein Boris Jelzin kaltblütig das russische Parlament hat beschießen lassen, zeigen zur Genüge, daß gewisse Demokraten Demokratie nur unter der Bedingung akzeptieren, daß ihre Ausübung sich nicht gegen ihre eigenen ideologischen Postulate wendet – Postulate, die allen auf eine fast metaphysische Weise zugemutet werden, und sich aller Kritik des Volkes entziehen.

In Wirklichkeit ist die Verunglimpfung des Populismus eine bequeme Art für die Neue Fürhungsschicht, unverblümt ihrer Verachtung für das Volk und ihrer Geringschätzung für Demokratie Ausdruck zu verleihen. Ihr Wille, ihn zu verteufeln, ist das sicherste Mittel dafür, den Populismus auch in Zukunft gedeihen zu lassen.

 

Alain de Benoist, Publizist und Buchautor, ist Herausgeber der Zeitschrift "Nouvelle Ecole" und einer der Vordenker der französischen Neuen Rechten ("Nouvelle Droite"). In der JF schrieb er zuletzt auf dem Forum über den "Abschied vom 20. Jahrhundert" (JF 2/00).


 
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