© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/00 18. Februar 2000

 
Filme: Zum hundertsten Geburtstag des Regisseurs Luis Bunuel
"Es leben die Ketten!"
Werner Olles

Luis Bunuel wurde am 22. Februar 1900 in Calanda, in der im Nordwesten Spaniens gelegenen Provinz Teruel geboren. Er studierte in Madrid einige Jahre Neurologie und Psychoanalyse, ging 1925 jedoch nach Paris, wo er als Regieassistent bei Jean Epstein arbeitete. Unter dem Einfluß des surrealistischen Malers Salvadore Dali begann er seine wissenschaftlichen Interessen in avantgardistische Filme umzusetzen. Gemeinsam schufen die beiden im Jahre 1929 in Paris den "Andalusischen Hund", einen Experimentalfilm, der unter allen Umständen das Kinopublikum schockieren sollte. Nach ein paar weiteren Filmen ("Das goldene Zeitalter", "Fruchtlose Erde") landete Bunuel schließlich 1938 in Hollywood, wo er spanische Filme synchronisierte. Als diese Tätigkeit ihn künstlerisch nicht mehr befriedigte – Francos Sieg 1939 im Bürgerkrieg hatte ihm zudem die Rückkehr nach Spanien endgültig verwehrt –, brach er 1947 nach Mexiko auf. Hier erreichte er drei Jahre später mit "Die Vergessenen" ("Los Olvidados") einen Höhepunkt seines frühen Filmschaffens. Zwar schilderte er ein oft benutztes Thema, die Welt jugendlicher Verbrecher, aber bislang hatte noch kein Film diesen Stoff mit so realistischem und menschlichem Einleben gestaltet wie Bunuel. Trotz der häufigen Schockwirkungen ist die Grausamkeit nicht Selbstzweck, die Brutalität nicht Effekthascherei. Bunuel wollte hingegen mit seinen schreckeinjagenden Bildern nur eine laute und unzweideutige Anklage gegen jene Gesellschaft erheben, die diese Jugendlichen aus den Slums von Mexiko City so grausam und brutal gemacht hat. Für "Die Vergessenen" bekam er 1951 in Cannes den Großen Preis für die beste Regie.

Ein bitterböser Blick auf die bürgerliche Doppelmoral ist auch sein 1952 ebenfalls in Mexiko gedrehter Film "Er" ("El"). Hier verarbeitete er einige seiner Lieblingsthemen: die Doppelmoral des bigotten Spießers, die Engstirnigkeit der Kirche und die vor allem vom Bürgertum als Synonym für Harmonie dargestellte Familie. Diese fragwürdige Ästhetik der Harmonie entlarvt Bunuel schrittweise als eine prekäre Mischung aus sexuellen Komplexen, Geilheit, Prüderie und Puritanismus.

Auf der Höhe seines Ruhms verfilmte Bunuel 1954 Daniel Defoes Roman "Robinson Crusoe". Ohne gegen das Original zu verstoßen wurde dennoch ein echter Bunuel-Film daraus, der dem Robinson-Abenteuer eine völlig neue Perspektive gab, die des seelischen Erlebens. Die Einsamkeit wird zu einer zerstörerischen Macht. Aber Bunuel war kein misanthropischer Eremit, und so ließ er seinen Robinson in die Gemeinschaft der Menschen zurückkehren.

Bereits ein Jahr später drehte er mit "Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz" einen Film, der sowohl den Regeln des Genres als auch den Prinzipien des Surrealismus, dessen Symbolwelt in seinem Werk zunehmend ihre Entsprechung fand, gehorchte. Der notorische Frauenmörder Archibaldo kann seine mörderischen Pläne nie in die Tat umsetzen, weil seine potentiellen Opfer immer schon vorher eines gewaltsamen Todes sterben. Als er sich selbst bei der Polizei anzeigt, wird ihm nicht geglaubt. Die Geschichte ist vor allem eine Verherrlichung der amour fou, die Mordszenen mehr oder weniger deutliche Abbilder von Sexualakten. Spielerisch, poetisch und ironisch setzt sich Bunuel einmal mehr mit religiösen und gesellschaftlichen Ritualen auseinander. Während seine Frau am Hochzeitstag von religiöser Verklärung ergriffen vor dem Bild der Madonna niederkniet – so hatte Archibaldo sie zum ersten Mal gesehen – erschießt er sie, und in seiner Vision färbt sich ihr weißes Brautkleid rot: der Mord als erotische Ersatzhandlung.

Mit symbolischen Verschlüsselungen arbeitete Bunuel auch in "Nazarin" (1959), "Viridiana" (1961) und "Der Würgeengel" (1962). In der französisch-italienischen Gemeinschaftsproduktion "Tagebuch einer Kammerzofe" (1963) geht es um die Brüchigkeit der bürgerlichen Werte, um das Leiden des gläubigen Menschen an Kirche, Vaterland, Ordnung und einer hoffnungslos verrotteten Welt. Bunuel beschreibt dieses Kaleidoskop von Verlogenheit, Heuchelei, Ehrfucht und Glaube, all diese niemals verheilenden Wunden wild und leidenschaftlich, aber ohne jeden Zynismus.

In Bunuels letzter künstlerischen Schaffensperiode entstanden "Belle de jour" (1966), "Die Milchstraße" (1969), "Tristana (1970), "Der diskrete Charme der Bourgeoisie" (1972), "Das Gespenst der Freiheit" (1974) und "Dieses obskure Objekt der Begierde" (1979). 1982 erschienen seine Erinnerungen "Le dernier soupir" (dt. "Mein letzter Seufzer"). Am 29. April 1983 starb Luis Bunuel in Mexiko City.

Einer seiner letzten Filme "Das Gespenst der Freiheit", eine Tragikomödie, deren diskontinuierliche Erzählweise und surrealistischer Ton unvergessen bleiben, zeigt uns, daß Bunuel nichts von seinem beißenden Sarkasmus und seiner Freude am Pamphlet verloren hat. Schon der gleichsam als Motto dem Film vorangestellte Ausruf "Vivan la cadenas!" – "Es leben die Ketten!" ist triefender Hohn. Ohne die geringste Spur von Ermüdung zu zeigen meldete der Altmeister einmal mehr seinen Widerspruch an und bediente sich zum Zwecke der Decouvrierung des surrealistischen Mittels der Gegenbilder, die auch hier wieder ihre subversive Wirkung tun. Herausragendes Beispiel dafür ist eine Einladung in ein bürgerliches Speisezimmer, wo man rund um den Tisch auf Klosettschüsseln Platz nimmt und dann allen Ernstes über die Vergiftung der Umwelt durch Kot disputiert. Zur Nahrungsaufnahme verschwindet man hingegen heimlich auf einem stillen, abschließbaren Örtchen. Am nachhaltigsten bleibt einem jedoch jener mit einem Schuhputzer über Tierquälerei sprechende Passant in Erinnerung, der kurz darauf ein Hochhaus betritt und willkürlich zahlreiche Passanten erschießt.

Wenn das Filmische eine ästhetische Form der Gewalt ist, der Überwältigung durch Bilder, dann versucht "Das Gespenst der Freiheit" diese bewußt zu machen. So findet in Bunuels Filmen ein Leben nach dem Tod auch keinen Raum. Um so ätzender charakterisiert er, was wir Lebenden vorher aus unserem Leben machen. Im letzten Bild des Films blickt ein Vogel Strauß in Großaufnahme dem Zuschauer kühl und prüfend in die Augen. Nicht er steckt seinen Kopf in den Sand.


 
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