© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/00 18. Februar 2000

 
Pankraz,
Apollonios v. T. und die Liebe zur Mathematik

Jesus Christus wurde nicht im Jahr von Christi Geburt geboren, das hat sich längst herumgesprochen. Geboren wurde damals – genau vor zweitausend Jahren – ein anderer "Religionsgründer": Apollonios von Tyana, der als Schriftgelehrter in der großen antiken Wissenschaftlerstadt Alexandria zugange war und in einigen Philosophiegeschichten als "Wiederbegründer des Pythagoreertums" oder auch als "Schöpfer des Neupythagoreismus" geführt wird, eine (nach allem, was wir wissen) zu seiner Zeit bochberühmte und attraktive Kapazität, aus dessen Werken viele gelernt haben, Heiden wie Juden und Christen, Plotin wie Philon und Origines.

Einige Geisteshistoriker, Christoph Baur etwa in seinen Untersuchungen zu "Apollonios und Christus" von 1914, neigen dazu, den Alexandriner in seiner Bedeutung für das Christentum über Jesus selbst zu stellen. Leider läßt sich das nicht nachprüfen, da von des Apollonios Werken außer ein paar Bruchstücken einer Pythagoras-Exegese und einer Schrift über das Wesen des Opfers nichts erhalten ist. Direkte Apostel hat er auch nicht gehabt, lediglich einen liebenden Biographen aus dem Jahre 210, Philostratos, dessen Lektüre es nahelegt, Apollonios mit der Sekte der Essener in Verbindung zu bringen, der wohl auch Jesus angehörte.

Was an Apollonios fasziniert, ist die enge Verbindung von höchster, kältester Wissenschaftlichkeit und glühender, leidenschaftlicher Gottesliebe und Gottesknechtschaft. Das Zeitalter, in das er hineingeboren wurde, war geprägt von Stoizismus und Hedonismus, von einer ganz und gar materialistischen Naturanschauung, wonach die Welt nichts weiter sein sollte als ein physikalischer Ablauf von Atom-Bewegungen. Über dieses angeblich materiell Letzte und "Unteilbare", das Atom und seine Bewegung, goß Apollonios seinen pythagoreischen Spott aus.

Das geteilt Unteilbare war in seiner Sicht nicht ein quantitativ bestimmbares Körperatom, sondern die Quantität selber, symbolisiert in der Zahl. "Das Buch der Natur ist in Zahlen geschrieben", dekretierte er, sechzehnhundert Jahre vor Kepler. Die Reihe der Zahlen und die strenge Ordnung der geometrischen Verhältnisse erschienen ihm als die eigentliche Pointe des Logos, der sich darin als Vollender und Schlüssel uralter vorlogischer, ja, vormythischer Erkenntnis-, oder besser: Welteinwohnungspraktiken zu erkennen gab, von Musik und Tanz, aber auch vom Beobachten auffälliger Gestirne.

Zahlen waren ewig, ungeworden, unvergänglich, unveränderlich und selbst unbeweglich; andererseits waren sie welthaltig wie nur irgendetwas, ihr Zusammenspiel schuf erst die rhytmisch geordnete Bewegung, regierte die Harmonien der Musik wie den Lauf der Gestirne. Aber es war auch lebenspraktisch ungemein verwertbar, wie ja schon die landvermessenden und Getreidesäcke auswiegenden Priester des Orients gezeigt hatten.

Die unabschließbare Zahlenreihe verband Diesseits und Jenseits, Endlichkeit und Unendlichkeit, Mensch und Gott direkt und sichtbar miteinander. Die Atome und das, was aus ihnen zusammengesetzt war, also die sinnlich wahrgenommenen Körper, waren lediglich Nachahmungen von Zahlenverhältnissen, und indem wir, die Menschen, die Ordnung der Zahlen durchschauen und mit ihnen rechnen, ahmen wir unsererseits den Schöpfungsprozeß nach, konstruieren die Welt nach dem Maß der Zahlen neu.

Diese Entdeckung (oder Sichtweise) vollendete den Triumph des Logos, nach dem die Philosophen sich immer so gesehnt hatten. Von hier aus konnte es weitergehen zur exakten Wissenschaft, die ihr Ideal fand im mathematischen Berechnen, in der bloßen Verarbeitung von Sinneseindrücken und spontanen Lebenserfahrungen zu Formeln und Operatoren. Apollonios war der Prophet dieser unheimlich modern anmutenden Sichtweise - und im selben Atemzug war er ein heftiger Prediger von Seelenreinheit und Askese, ermahnte leidenschaftlich zu Gebet und innerer Einkehr, zu rituellen Waschungen und Reinigungen, zu geschlechtlicher Enthaltsamkeit und zur Abtötung "böser" sinnlicher Triebe.

Tatsächlich hat er damit die großen geistigen Auseinandersetzungen der folgenden zwei, drei Jahrhunderte viel deutlicher geprägt als Jesus, auch und gerade innerhalb der christlichen Gemeinden. Gnostiker und frühe Kirchenväter stritten um die von Apollonios vorgegebenen Alternativen. Der Zug zur Sinnenfeindschaft im frühen Christentum wurde unter Bezugnahme auf Apollonios fast zur Besinnungslosigkeit angefacht und gesteigert. Das Gute und Göttliche gerann bei den Christen zu einer rein geistigen, nachgerade mathematischen Größe.

Die sinnlich wahrnehmbare Natur wurde nicht mehr nur als Sphäre der Nichtigkeit und des Unheils verketzert, sondern als Material der Pflicht zur vollen Disposition gestellt. Wer sich Natur unterwarf, sie sich untertan machte, sie nach mathematischen Formeln rektifizierte, ausnutzte und "verbesserte", der tat ein gutes, Gott wohlgefälliges Werk. Christentum und moderne Wissenschaft waren dank Apollonios von Anfang an miteinander im Bunde; eben deshalb kam es einzig im christlichen Abendland, nicht in Asien oder anderswo, nach einer gewissen Karenzzeit zur sogenannten wissenschaftlichen Revolution.

Der arme Jesus Christus hat gegen diese Entwicklung nicht viel ausrichten können. Zwar verwandelte er gelegentlich Wasser in Wein, ließ Lahme wieder gehen und speiste Fünftausend mit einem einzigen Laib Brot, aber wie er das machte, hat er nicht verraten. Sein Wesen war nicht die Mathematik und nicht die Konstruktion, sondern die Barmherzigkeit. Er braucht sich darob aber nicht zu verstecken. Mag sein, er wird noch heftig gebraucht, wenn die Bäume von Apollonios und Galilei allen Berechnungen zum Trotz am Himmel vorbeigewachsen sind.


 
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