© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/00 11. Februar 2000

 
Uwe Neumärker/Robert Conrad/Cord Woywodt: Wolfsschanze
Eine Stadt in Kleinformat
Thorsten Hinz

Selten hat sich an einem einzigen geographischen Punkt in so kurzer Zeit derart viel Macht konzentriert wie auf dem Gelände bei Rastenburg, wo Hitler von 1941 bis Ende 1944 sein Hauptquartier "Wolfsschanze" unterhielt. Durch Hitler ist das Areal zu einem verruchten, traumatischen Ort geworden. "Wenn die Menschen schweigen, so werden die Steine schreien", schreibt Herder. Was die Betonmassen der "Wolfschanze" tatsächlich mitteilen, hat indes noch niemand adäquat übersetzen können. Die Tatsache, daß Graf Stauffenberg hier der Tyrannei ein Ende setzen wollte, Gedenkwürdiges leistete, kompliziert die Sache zusätzlich. Im Grunde weiß man nur wenig über die "Wolfsschanze", und dieses Wenige wird häufig von braunen Mythenschwaden umwabert.

Der junge Berliner Autor Uwe Neumärker hat mit seiner hervorragenden Darstellung des Führerhauptquartiers von der Planungsphase bis zur heutigen Zeit weitgehend Neuland betreten. Er hat alle greifbaren Memoiren, Berichte, Veröffentlichungen herangezogen und sie durch eigene Recherchen, Archivstudien und Befragungen von Zeitzeugen ergänzt. Das Buch bietet zudem einen kurzen Exkurs zur Geschichte Ostpreußens und Rastenburgs, der sich von den Sprachregelungen der "political correctness" frei hält. Das Bildmaterial ist hochinteressant und weitgehend unbekannt.

Insgesamt hat Hitler im Laufe des Krieges mehr als zwanzig Hauptquartiere besessen, die je nach Schwerpunkt der Kämpfe immer wieder reaktiviert werden konnten. Erste Konzeptionen für diese prinzipiell mobile Institution wurden seit April 1938 angesichts der Sudetenkrise entwickelt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges bezog Hitler zunächst behelfsmäßig einen gepanzerten Zug, der in Frontnähe an wechselnden Orten Pommerns stationiert wurde. Als der Krieg sich 1940 an die Westfront verlagerte, bezog er Unterkünfte nahe Münstereifel ("Felsennest") und an der belgisch-französischen Grenze ("Adlerhorst").

Das Vorbild für diese Einrichtung war das Kaiserliche Hauptquartier im Ersten Weltkrieg, dessen historische Wurzel wiederum das Feldquartier der preußischen Soldatenkönige war. Seit Beginn des Krieges mit der Sowjetunion bis zum November 1944 hielt er sich hauptsächlich in der "Wolfsschanze" auf. Die Neue Reichskanzlei in Berlin und der "Berghof" am Obersalzberg blieben weiterhin die Basisstationen.

Die "Wolfsschanze" war eines der bestbewachten Gelände in Europa, was nicht verhinderte, daß Informationen darüber ins feindliche Ausland gelangten. Eine schöne Polin, die der polnischen Abwehr angehörte und mit deutschen Offizieren angebandelt hatte, verschaffte sich 1942 hier Zutritt und informierte die Engländer. Und im August 1944 warfen die Russen sogar Flugblätter über der "Wolfsschanze" ab, auf denen die Namen der Mitarbeiter aufgeführt waren.

Die "Wolfsschanze" war ab 1940 von der Organisation Todt errichtet worden. Sie verfügte über einen eigenen Bahnanschluß "Görlitz" und einem Flugplatz. Die Bahnstation war zur Verschleierung sogar im Fahrplan der Reichsbahn ausgedruckt, obgleich die Strecke für den zivilen Bahnverkehr natürlich gesperrt war. Die ausgedehnte Anlage war in drei Sperrgürtel gegliedert, die jeweils nur nach Aufsagen der aktuellen Tagesparolen betreten werden konnten. Mit den Versorgungseinrichtungen, einem Teehaus, Kasino, Kinosaal, Frisiersalon usw. bildete die "Wolfsschanze" eine Stadt im Kleinformat. Durch ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem waren alle militärischen und zivilen Dienststellen – auch die im neutralen Ausland – im kürzester Zeit über Funk, Telefon oder Fernschreiber zu erreichen. Tägliche Sonderzüge sorgten für den Aktenfluß zwischen Berlin und dem Hauptquartier.

Zur Tarnung waren die Gebäude asymmetrisch angeordnet. Über den Wegen waren Netze aufgespannt, der dichte Baumbestandes blieb weitestgehend erhalten und wurde durch Neuanpflanzungen ergänzt. Dadurch wurde allerdings auch der Lichteinfall minimiert. Die Decken der Bunker waren dazu ausgelegt, den "Führer" und die Spitzen von Wehrmacht und Partei notfalls gegen 500-Kilo-Bomben schützen. 1944 erhielten die Bunker eine nochmalige dicke Ummantelung, die ihnen das Aussehen von Pharaonengräbern verlieh.

Der spartanische Zuschnitt und die feldmäßige Möblierung der Bunker und Gebäude standen im krassen Gegensatz zu dem weitäumigen, mit zweifelhaftem Prunk ausgestatten Gemächern, die Hitler in Berlin und auf dem Obersalzberg bewohnte. Das permanente künstliche Licht und der Überdruck in den Gewölben, die feuchten Ausdünstungen des Betons und die allgemeine Abgeschiedenheit reduzierten das Leben im Hauptquartier auf eine ungesunde Höhlenexistenz, für die auch die Nähe zur Macht nicht entschädigte. Mückenschwärme aus den umliegenden Sümpfen plagten die Bewohner. Wer nur irgend konnte, schlug sein Quartier außerhalb der "Wolfsschanze" auf. Göring beispielsweise residierte auf seinem luxuriösen "Reichsjägerhof" in Rominten. Generalstabschef Jodl nannte die "Wolfsschanze" eine "Mischung zwischen Kloster und Konzentrationslager". Die herrschende Anspannung entlud sich mitunter in skurriler Weise. So stimmten die Wachmannschaften einmal zu Weihnachten die "Internationale" – bis 1943 die russische Nationalhymne – an.

Selbst dem mit einer hohen Erzählkunst begabten Hitler-Biographen Joachim Fest fiel es seinerzeit schwer, das Leben des Feldherrn in der "Wolfsschanze" anschaulich zu machen. Zu wenig Details waren überliefert, zu eintönig, einseitig und uninteressant war Hitlers Bunkerleben. Neumärker hat nun Einzelheiten der Tages-, Wochen- und Saisonabläufen ermittelt, Chronologien der Staatsbesuche, Empfänge, Gespräche zusammengestellt, ausgewählte Ereignisse ausführlich und atmosphärisch dicht geschildert. Eine Kärrnerarbeit!

Am 20. November 1944 fand hier die letzte Lagebesprechung statt. Am Nachmittag fuhr Hitler unter dem Donner der herannahenden Ostfront, die nur noch 70 Kilometer von Rastenburg entfernt war, mit einem Sonderzug nach Berlin und überließ Ostpreußen seinem furchtbaren Schicksal. – Parallel dazu liefen die Arbeiten an einem neuen, weitaus größeren Hauptquartier mit dem Decknamen "Riese" in Niederschlesien weiter.

Einige kritische Anmerkungen sind nötig: Der Satz, mit dem Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast die russische Bedrohung beschwor, lautete: "Der Ansturm der Steppe gegen unseren ehrwürdigen Kontinent ist in diesem Winter mit einer Wucht (nicht: Wut) losgebrochen, die alle menschlichen und geschichtlichen Vorstellungen in den Schatten stellt." Auch hat nicht ein Drittel der 6. Armee Stalingrad "überlebt", sondern von 300.000 Soldaten gelangten 91.000 entkräftet in russische Gefangenschaft; nur 6.000 kehrten nach Deutschland zurück. Und nach Kriegsende wurden nicht zehn Millionen Polen östlich der Curzon-Linie vertrieben, sondern rund drei Millionen.

Ein wenig mehr Hitler-Psychologie, beispielsweise ein Exkurs darüber, in welchem Maße der strategische Starrsinn, der Hitler ab Ende 1941 befiel und der im Gegensatz zu seiner politischen Flexibilität in den 30er Jahren stand, von der irrealen Höhlenwelt inspiriert wurde, wäre angebracht gewesen. Man vermißt auch vertiefende Ausführungen darüber, wie sich das eigenartige Konstrukt des "Führerhauptquartiers" herrschaftstechnisch auf die Führung des Reiches und des Krieges auswirkte. Doch das ist fast schon Krümelsucherei. Denn das Buch ist rundum empfehlenswert!

 

Uwe Neumärker / Robert Conrad / Cord Woywodt: Wolfsschanze. Hitlers Machtzentrale im Zweiten Weltkrieg, Christoph Links Verlag, 195 Seiten, mit zahlr. s/w-Abb., 68 Mark


 
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