© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/00 04. Februar 2000

 
Tina Österreich: 11 Tage oder Protokoll einer Zwangseinweisung
Das Leben – eine einzige Posse
Siegmar Faust

Mir fällt nichts ein dazu. Überhaupt nichts. Gar nichts. Das Leben ist eine einzige Posse." Mit diesem Zitat möchte man am liebsten diesen Bericht über eine deutsche Klinik wegstecken, um sich nicht zu sehr aufregen zu müssen. Aber dieses Büchlein läßt einen nicht los, man liest es nicht nur mit Spannung, sondern auch mit Empörung, vor allem, wenn man die Autorin (Pseudonym: Tina Österreich) oder ihre drei bisherigen Bücher kennt.

Schon die früheren Werke verrieten ein Naturtalent des Erzählens, wahrhaftigen Berichtens, was in den Augen mancher Kritiker nichts mit Literatur zu tun haben soll. Wie dem auch sei, fest steht, daß Tina Österreich bisher nicht durch fiktives Fabulieren, jedoch gekonntes Reflektieren eigener Erlebnisse auffiel. Das muß vorangestellt werden, damit kein Zweifel aufkommt, daß die vorliegende Beschreibung bloße Literatur sei.

Tina Österreich war vor ihrem Fluchtversuch 1974 in Leipzig Lehrerin, doch nach ihrem Freikauf aus einjähriger Haft – die sie in ihrem mit vielen Auflagen verbreiteten Buch "Ich war RF" beschrieben hatte – wurde sie im Westen nicht in ein normales Beamtenverhältnis befördert, sondern durfte stets nur dort unterrichten, wo kein arbeitsloser Pädagoge hin wollte. Ihr Resümee: "Immer mehr Ausländer, für die eine Frau sowieso NICHTS war. Immer mehr abgebrochene Hauptschüler, immer mehr verhaltensgestörte Schüler, immer mehr kriminelle Schüler."

Ihre eigene Entwicklung – nach der anfänglichen Freude, sich endlich im freien Westen frei entfalten zu dürfen – führte zu einem Zustand, der gleichnishaft den Unterbau unserer Spaßgesellschaft ausleuchtet. Nach ihrer Scheidung flüchtete sie sich in "Arbeit, Arbeit, Arbeit, Tanzen, Ausflüge mit Kollegen, Bootsführerschein. Ablenkung mit allem, was ich bekommen konnte". Und bald begannen, fast folgerichtig, ihre Depressionen. "Sicher hatte ich sie längst in mir. In die Schule mit letzter Kraft, Einschlafen auf dem Heimweg im PKW. Zwei Unfälle. Immer glimpflich. Eine Kur. Beendet durch einen schweren Unfall. Wieder eine Kur. Krebsdiagnose per Telefon." Ihre jüngste Tochter gerät ins Drogenmilieu und ihrem zweiten Mann wird ebenfalls Krebs diagnostiziert; seine Tage sind gezählt. Und als sie symbolisch am Rande eines Kraters steht, Hilfe sucht, wird sie gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik festgehalten.

Diesem Umstand verdanken wir, so makaber es klingen mag, den Nachvollzug eines Alptraums, der uns einerseits selber einholen kann, andererseits die uns regierende bürokratische Ignoranz und Einfältigkeit bewußt werden läßt. Diese Logik durchschaute längst der unter uns lebende Philosoph Odo Marquard, in dem er vor der immer weiter um sich greifenden Erfahrungslosigkeit der E-mail-Besitzer warnte, vor allem vor den durch die 68er Generation geschürten, weltfremd gewordenen Utopieerwartungen, "die – weil keine vorhandene Erfüllung sie befriedigt – sich gegen die vorhandene Welt kehrt, um Schluß mit ihr zu machen im Namen des Heils: durch eschatologische Weltvernichtung".

Tina Österreich widersetzt sich tapfer ihrem Elend und der Absurdität dieser unserer Welt durch präzises Beobachten und schriftliches Fixieren, das ihr gegen alle verlogene oder gekünstelte Literatur zur Erfahrungskunst gedeiht. Sie hat, wie viele der freigekauften Dissidenten, zwei Erfahrungsfilme über Deutschland im Kopf und kann deshalb vergleichen. Daß jene SED-Macht, einst der furchtbare Alptraum eingesperrter, mißhandelter, beraubter und gedemütigter Menschen, unter neuem Etikett zu einer "ganz normalen Partei" im vereinigten Deutschland mutieren durfte, mit der sogar Führungskräfte der CDU zu possieren begannen, läßt den anfangs zitierten Satz Tina Österreichs zu einem unheilvollen Paradigma werden, gegen das eine Posse, also ein "derber Unfug", noch ein harmloser Kosename ist.

 

Tina Österreich: 11 Tage oder Protokoll einer Zwangseinweisung, Schardt Verlag, Oldenburg 1999, 121 S., 24,80 Mark


 
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