© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/00 28. Januar 2000

 
Schriftsteller: Zum hundertsten Geburtstag von Hermann Kesten
Im Dienst der Aufklärung
Werner Olles

Man hat Hermann Kesten einmal als den Doyen der deutschen Literaturszene der zwanziger Jahre und des Exils bezeichnet. Der jüngst verstorbene Horst Krüger sah in dem Ehrenpräsidenten des PEN-Zentrums Deutschland und Nelly-Sachs-Preisträgers von 1977 einen "leidenschaftlichen Aufklärer", während Kesten selbst bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises drei Jahre zuvor bekannte: "Ich habe nie um der Kunst willen geschrieben, sondern nur der Wahrheit wegen oder der Gerechtigkeit."

Am 28. Januar 1900 wurde Kesten in Podwoloczyska/Galizien als Sohn eines Kaufmanns jüdischer Herkunft geboren. Im Alter von vier Jahren siedelte er mit seinen Eltern nach Nürnberg über, wo er bis zum Abitur das Bismarck-Gymnasium besuchte. In Erlangen und Frankfurt am Main studierte er Geschichte, Germanistik, Philosophie und Literaturwissenschaften, brach jedoch sein Studium 1923 ab, nachdem ihm seine Dissertationsmanuskripte über Heinrich Mann abhanden gekommen waren.

Kesten schrieb zunächst für die Frankfurter Zeitung und die Jugend, zwei seiner Theaterstücke wurden im Verlag Gustav Kiepenheuer veröffentlicht, in dem er später Verlagslektor, schließlich Cheflektor und Literarischer Direktor wurde. 1927 erschien sein erster Roman "Joseph sucht die Freiheit", für den er den Kleist-Preis erhielt. Kesten avancierte zum Repräsentanten der "Neuen Sachlichkeit", seine Kritik, zum Teil satirisch überspitzt, richtete sich primär gegen bestehende Dogmen, Ideologien und Institutionen, wie Kirche, Staat und Religion, die seiner Meinung nach der Humanität und der Befreiung des Menschen entgegenstanden.

Mit den Romanen "Ein ausschweifender Mensch" (1929), "Glückliche Menschen" (1931) und "Der Scharlatan" (1933) schuf er ein Sittenpanorama von der Kaiserzeit bis zum Ende der Weimarer Republik. In Balzacscher Fülle schaltet er oft mit erotischen Effekten, seine Romanhelden durchwandern – ähnlich wie in den spanischen Schelmenromanen – bis zur völligen Desillusionierung alle gesellschaftlichen Sphären und müssen schließlich doch erkennen, daß ihr Streben nach bürgerlichen Werten zum Scheitern verurteilt ist.

1933 verließ der mit Heinrich Mann, Ernst Toller, Joseph Roth und Erich Kästner befreundete Autor Deutschland und leitete in Amsterdam den Emigrantenverlag Albert de Lange. Während eines Aufenthaltes im französischen Nizza wurde er 1939 für kurze Zeit interniert, konnte aber ein Jahr später in die Vereinigten Staaten auswandern. In New York arbeitete Kesten für das "Emergency Rescue Commitee", das vielen Autoren half, in der Emigration zu überleben. Seine zwischen 1936 und 1938 erschienenen Romane "Ferdinand und Isabella", "König Philipp II." und "Die Kinder von Guernika" befassen sich mit Spaniens Aufstieg zur Weltmacht und nahmen in einer bewußt historischen Spiegelung die Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland vorweg.

Kestens erstes Buch nach dem Krieg "Die Zwillinge von Nürnberg" (1947) beschreibt die extremen politischen Polarisierungen in der Zwischenkriegszeit am Beispiel von zwei Brüdern, von denen der eine zum NS-Funktionär wird, und der andere emigrieren muß, beide können jedoch der strafenden Gerechtigkeit nicht entkommen. 1949 erhielt Kesten die amerikanische Staatsbürgerschaft, im gleichen Jahr erschien sein Roman "Die fremden Götter", in dem er die ewige Feindschaft zwischen Christen- und Judentum thematisiert. Nach einem Besuch in Deutschland ließ Kesten sich in Rom nieder, lebte aber zeitweilig auch in Basel und New York.

1952 erschien seine "Casanova"-Biographie, drei Jahre später folgte "Ein Sohn des Glücks". In beiden Romanen schildert er – auf wirksame Formulierungen bedacht und zu Paradoxien und Aperçus neigend – die amourösen Eskapaden eines notorischen Frauenhelden und Herzensbrechers. Mehr persönliche Urteile als Analyse, aber dennoch voller Reiz, sind auch die Erinnerungen "Dichter im Café – eine Chronik" (1959), während er mit dem Roman "Die Zeit der Narren" (1966) von den chaotischen Verhältnissen der Nachkriegswirren ausgehend die Saturiertheit der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft mit ihrer schalen Selbstzufriedenheit anprangert. Einflüsse der Burleske und der Tragödie finden sich auch in Kestens letzten Werken, dem Roman "Ein Mann von sechzig Jahren" (1972) und dem Gedichtband "Ich bin, der ich bin" (1974). 1978 wurde der Kulturpreisträger der Stadt Nürnberg auch zum Ehrendoktor der Universität Erlangen ernannt.

Hermann Kesten, der als Schriftsteller von der Aufklärung herkommt, zeigt sich in seinen Romanen und Essays vornehmlich als Skeptiker, zugleich jedoch auch als Optimist, der an die Humanität und die Freiheit glaubt. Seine satirische Kritik an der Gesellschaft erinnert oft an Heinrich Heine, stärker aber noch an Heinrich Mann. Negativ erscheint heute dagegen, daß er häufig nur die Gegenpole "Fortschritt und Humanität" auf der einen und "finsterste Reaktion" auf der anderen Seite kennt, Grau- und Zwischentöne scheint es für ihn kaum zu geben. Am 3. Mai 1996 starb Hermann Kesten in Basel im hohen Alter von 96 Jahren.


 
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