© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/00 28. Januar 2000

 
Pankraz,
Cagliostro und der fette, ungenießbare Skandal

Ein großer Skandal", schrieb Marcel Aymé, "macht viele fett, sogar die dürren Moralköder, die sich unterm Tisch um die Reste balgen." Er meinte damit, damals in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine gewisse Spezies von Zeitungsschreibern, die üblicherweise viel zu feige und zu abhängig sind, um sich nach irgendeiner Richtung zu exponieren, die nun aber, in der Zeit des Skandals, mit Wonne auf den Zug der allgemeinen Entrüstung aufspringen und voll in die Moraltuba blasen, daß sie fast zerplatzen. Sie sind die Gourmands des Skandals.

Es gibt aber auch ausgesprochene Skandal-Gourmets, die die Ereignisse Häppchen für Häppchen genießen. Skandale sind in der Regel Enthüllungs-Spektakel, und falls die Genießer zu den aktiven Enthüllern gehören, dosieren sie den Grad der anstößigen Mitteilungen in geschmäcklerischer Weise, rücken keineswegs sofort mit der vollen Wahrheit heraus, auch wenn sie längst über sie verfügen, sondern stückeln die Sprengsätze sorgfältig, so wie Parteischatzmeister eingehende Spenden stückeln, zünden bedachtsam eine Bombe hinter der anderen, um am Ende ein wahrhaft feenhaftes Feuerwerk des Untergangs zu erreichen.

Und noch eine Gattung mästet sich am Skandal: Jene, die mit dem Skandalopfer alte Rechnungen zu begleichen hatten und lange, allzu lange auf Genugtuung für erlittene Unbill warteten. Jetzt plötzlich sehen sie den kolossalen Kadaver ihres Widersachers von einst den Bach hinuntergehen, und sie können sich mit Konfuzius sagen: "Es lohnt sich, alt zu werden, weil man dann am Ufer sitzt, wenn die Leichen der Feinde im Fluß vorüberziehen."

Bietet der Skandal auch Kalorien und Gaumenfreuden für das Ganze, für die Allgemeinheit? Löst er "befreiende, reinigende Wirkung" aus, wie manche Optimisten meinen? Nun, zumindest macht er Sünder (Machtsünder, Sexsünder, Geldsünder) vorsichtiger. Auch erhöht er zeitweise die Auflagen, steigert die Quoten, sorgt für Gesprächsstoff. Mit Befreiung und Reinigung scheint es freilich nicht weit her zu sein.

Skandale, so sie tief reichen, "erschüttern" ein Gemeinwesen oder eine Struktur, aber zerstören können sie sie nicht. Ihr Erkenntnisgehalt ist nämlich, aller Enthüllerei zum Trotz, meistens äußerst dürftig. Die Gesellschaft lernt nichts aus ihnen, das sie beflügeln könnte, zu neuen Ufern aufzubrechen, sondern sie fühlt sich durch sie lediglich in dem bestätigt, was sie ohnehin "immer schon" geahnt, vermutet, "gewußt" hat.

Kein Historiker wird etwa behaupten, daß der berühmte Halsband-Skandal um die französische Königin Marie Antoinette das "Ancien régime" zu Fall gebracht und die Revolution von 1789 ausgelöst habe, einige sind sogar der Meinung, daß die Halsbandgeschichte das Regime momentan stabilisierte. Denn nicht die Struktur, nicht das Königtum als solches, wurde damals blamiert, sondern allein die Königin, die einigen billigen Betrügern aufgesessen war. Das gesellschaftliche Übel verwandelte sich in ein individuelles Übel, dem man leicht "systemimmanent" beikommen konnte, indem man die Betrüger verhaftete oder vom Hofe vertrieb.

Skandale focussieren und personalisieren. Der Skandalsünder erscheint als überdimensionaler Sündenbock, dem man alle Verfehlungen der Gemeinschaft bequem aufladen kann. Der Publizistik fällt es folglich leicht, das Funktionieren der Gemeinschaft in den rosigsten Farben von der düsteren Folie des Sündenbocks abzuheben, und dieser erhält (wenigstens vor sich selbst) ebenfalls Rechtfertigung: Er darf sich als echtes Opfertier fühlen, das – neben den eigenen – die Sünden aller übrigen auf sich nimmt und in die Wüste fortträgt.

Die Gemeinschaft hat sich auf diese Weise zwar gereinigt und befreit, aber eindeutig auf Kosten anderer. Zu Selbstreinigung und Eigenänderung fühlt sie nicht den geringsten Anlaß mehr. Ihre führenden Schichten gehen gestärkt aus der Affäre hervor, wie ja auch absehbar ist, daß im gegenwärtigen Spendenskandal die derzeitige rotgrüne Bundesregierung letzten Endes reiche Ernte wird einbringen können. Ihre Chancen, über die aktuelle Legislaturperiode hinaus an der Macht zu bleiben und das Land viele Jahre durchzupflügen, haben sich dramatisch verbessert.

Wie man es auch dreht und wendet, Skandale sind kein positiver gesellschaftlicher Treibsatz. Sie bleiben schmutzig von oben bis unten, überfressen sich an sich selber, ihr Unterhaltungswert hält sich in engen Grenzen. Ziemlich rasch kommt der Tag, da der Nachrichtenkonsument die jeweils neuesten Frontberichte vom gerade laufenden Skandal einfach nicht mehr hören mag.

Knüller von anderen Kriegsschauplätzen beanspruchen den Platz als Spitzenmeldung, und da wir bekanntlich in einer "one issue society" leben, in einer Gesellschaft, die sich – trotz oder wegen der Informationsflut – stets nur an einem einzigen Großthema festzuhalten vermag, degeneriert auch der fetteste Skandal zur dürren Ente. Bald werden Aymés Moralköder wieder an dürftigen Alltagsknochen nagen müssen.

Was übrig bleibt, ist allenfalls ein Zorn, ein Zorn über die Kümmerlichkeit dieses CDU-Spendenskandals, dem jegliche Pikanterie und jeglicher Glanz des Bösen vollkommen abgehen. Man vergegenwärtige: Da werden mit schwitzenden Händchen Köfferchen mit Tausendmarkscheinen über den Tresen geschoben, nur damit irgendwelche Parteikreisverbände ihre Loyalität gegenüber dem großen Vorsitzenden bekunden und irgendwelche hinterzimmrigen Partei-Sozialausschüsse gegen die Schwafelkonkurrenz von der PDS bestehen können!

Das verflossene Bonn, so dämmert einem, war nicht einmal in der Lage, einen zünftigen Skandal vom Format der Halsbandgeschichte zu provozieren, mit schönen Frauen, gleißenden Geschmeiden und eleganten Abenteurern à la Cagliostro. Jeder echte Gourmet wendet sich mit Grausen.


 
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