© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/00 28. Januar 2000

 
Spendenaffäre: Alfred Grosser über Helmut Kohl und das deutsche Parteiensystem
"Zerfall der CDU ist vorstellbar"
Moritz Schwarz

Herr Professor Grosser, wie wird die CDU-Spendenaffäre in Frankreich beurteilt?

Grosser: Auch wir haben hier Affären gehabt, zur Zeit mehr denn je. Auch Staatspräsident Chirac stünde vielleicht vor Gericht, genösse er nicht auf Grund seines Amtes Immunität, wie unser Verfassungsgericht gerade bestätigt hat. Dennoch laufen gegen ihn die Ermittlungen weiter, für den Tag an dem er seine Amtsfunktion beendet. Da handelt es sich um sehr schwerwiegende Vorwürfe, unter anderem Wahlfälschung. Der Chef der Kommunistischen Partei steht vor Gericht wegen geheimer Gelder. Auch bei den Sozialisten gab es solche Vorfälle. Wir sind an Skandale gewöhnt. Aber wir waren kein Modell, wie das die Bundesrepublik bisher gewesen ist. Die Bundesrepublik als die Verkörperung einer Demokratie. So schreibt das die französische Presse, etwa Le Monde, schon seit langem: Die Bundesrepublik als Modell einer Demokratie. Es war das Land, das das beispielhaft stand für Rechtsstaat und für Grundwerte. Dieses Modell kommt jetzt ins wanken. Und das ist Kohls Schuld: Kohl sagt, meine Treue zu meinen Mittätern ist größer als mein Rechtsstaats-Empfinden.

Ist das nicht die Logik eines Paten: Cosa nostra – die Ehre, die Familie – die Verantwortung für das große Ganze ist zweitrangig?

Grosser: Ich würde sogar noch weitergehen und schockierend formulieren: "Meine Ehre heißt Treue", nicht um Helmut Kohl mit einem SS-Mann zu vergleichen, aber es ist eine völlige Verkennung der Grundwerte der Bundesrepublik Deutschland. Und insofern ist das auch ein tolles Geschenk an die PDS. Die sagen natürlich jetzt: Seht her, das ist die wahre Bundesrepublik! Ganz abgesehen von den SED-Geldern, die darüber ganz in Vergessenheit geraten und jetzt unterirdisch schlafen.

Kommt Deutschland jetzt in Europa in den Ruf, eine Bananenrepublik zu sein?

Grosser: Nicht mehr als Frankreich oder Italien. Aber die Bundesrepublik war eben bis jetzt ein Vorbild, die anderen europäischen Staaten sollten so werden wie sie. Sie ist das einzige Land in Europa, das nicht auf dem Gedanken der Nation aufgebaut ist, sondern auf der Ethik des Rechtsstaates gegen den Totalitarismus der Vergangenheit und den Totalitarismus in der Nachbarschaft. Ich hoffe, Europa wird diesen Weg gehen. Plötzlich steht die Bundesrepublik nun nicht mehr als Leitbild dieser Entwicklung zur Verfügung. Und zwar durch Kohl, der doch das Bild des großen Europäers war und aus der Wiedervereinigung auch eine Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft gemacht hat. Nun zeigt er sich verbockt und sagt Dinge, die er nicht einmal denken dürfte. Er hat die Verfassung verletzt, laut Artikel 21 Grundgesetz müssen die Parteien Rechenschaft über ihre Gelder geben. Überhaupt sagt das Parteiengesetz soviele Dinge, die da "vergewaltigt" worden sind, daß da wenigstens ein Minimum an Reue da sein müßte.

Ist das nicht ein Mangel an Patriotismus bei Helmut Kohl, wenn man Patriotismus als Verantwortung versteht?

Grosser: Im Sinne eines Verfassungspatriotismus gewiß. Ansonsten ist diese zynische Auffassung der Macht in vielen Staaten verbreitet. Man kennt das sonst von den großen Verkörperungen der Nation, etwa Napoleon, der hat auch enorme Geldaffären gehabt. Ein Teil der deutschen Intellektuellen auf der linken Seite hat immer gesagt, diese Bundesrepublik ist doch kein Rechtsstaat, und dagegen habe ich immer protestiert. Sie ist durchaus die Verkörperung des Rechtsstaats. Durch die Art, wie er sich benimmt, gibt Kohl jetzt diesen kritischen Stimmen zu sehr recht.

Warum verhält die sich SPD so still?

Grosser: Die Gratis-Flüge der SPD liegen auf einem ganz anderen Niveau. Aber der eigentliche Grund ist, daß die SPD weiß, daß die Demokratie aufgebaut worden ist durch das Zusammenwirken der beiden großen Parteien, die sich politisch nur fair bekämpft und die Demokratie gesichert haben. Wenn nun einer der beiden Pfeiler zusammenbricht, kann der andere das gemeinsame Haus alleine nicht mehr halten. Ich glaube, das weiß die SPD.

Welche Folgen sehen Sie für das bürgerliche Lager in Deutschland?

Grosser: Es geht nicht nur um das bürgerliche Lager, es geht um die Demokratie. Die Bundesrepublik war immer gleichzeitig eine Kanzlerdemokratie und ein Parteienstaat. Beide sind heute gefährdet. Wir werden das demnächst bei der Wahl in Schleswig und Holstein sehen, wenn das CDU-Wahlvolk nicht mehr will und sich enthalten wird. Ich glaube nicht, daß viele zur SPD übergehen werden, und auch die FDP macht sich wohl umsonst Hoffnungen. Dann sähe es schlimm aus, denn dann droht der CDU ein italienisches Schicksal, nämlich wie die Democratia Christiana zu zerfallen und zu verschwinden. Vorstellbar wäre ein Zerfall in eine relativ liberale Partei im Stil Christian Wulffs und eine harte, CSU-orientierte Partei. Profitieren wird die PDS. Zum Glück gibt es in Deutschland noch keine rechtsextreme Gruppe, die davon profitieren wird, wie die NSDAP in der Weimarer Republik. Übrigens halte ich den Schaden, den Helmut Kohl angerichtet hat, für weniger schlimm als den, den Herr Stoiber angerichtet hat, als er versucht hat, Haider hoffähig zu machen. So etwas halte ich für den ersten Schritt in diese Richtung.

Aber erweist sich das deutsche Parteiensystem im europäischen Vergleich nicht als zu einseitig? Jetzt werden Bürger enttäuscht mit Wahlenthaltung reagieren. Ein breiteres Parteiensystem würde diesen Wählerunmut auffangen und damit wieder in die Demokratie integrieren. Die CDU aber verhindert diese bürgerlichen Alternativen seit Jahrzehnten.

Grosser: Nein. Die Bundesrepublik hat sehr gut damit gelebt, daß es ein Zwei-Parteien-System gab, das freilich, das muß man dazu sagen, nicht so aussah wie das österreichische. Dort hat sich in Jahrzehnten eine Art Komplizenschaft eines Verteilungssystems der beiden großen Parteien entwickelt. Das bundesdeutsche System bringt eher, nach englischem System, eine Alternative an der Macht. Mit Ausnahme der sehr guten Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger, die viel geleistet hat. Es gibt die Alternative, man wählt die CDU oder die SPD, und wenn man rechter gehen will, kann man doch aufgefangen werden, weil eben in der CDU sich sehr vieles versammelt. Die CDU ist, und das ist für mich bis heute ihr größter historischer Verdienst, nach dem Krieg eine Sammlungspartei gewesen für ehemalige NSDAP-Parteigenossen und hat diese zur Demokratie geführt. Die SPD hat diesbezüglich 1990 mit ihrer Abgrenzung gegenüber SED-Genossen leider versagt. Zu Gunsten einer politischen Reinheit hat sie auf tausende Wähler und Mitglieder verzichtet, während die CDU sich ohne weiteres für die Block-CDU geöffnet hat.

Einerseits sagen sie, es ist ganz gut, daß es diese Staatspartei CDU gegeben hat, ohne bürgerliche Rivalen. Zuvor aber prognostizierten Sie den möglichen Zerfall der CDU und die staatsdestabilisierenden Folgen und nehmen daraus resultierende desorientierte Wählermassen billigend in Kauf. Das paßt angesichts Ihres Arguments der Verantwortung nicht zusammen.

Grosser: Nein, sie setzen sich vorläufig nicht von der Demokratie ab, sie sind von der Demokratie enttäuscht. Jetzt kommt es darauf an, ob und wie sich die CDU erneuert, was sie anbietet, ob sie sich verjüngt. Ich habe überhaupt kein Verlangen nach einer anderen Partei, die im Zuge des Auffangens das Spektrum der Demokratie doch sehr nach rechts rücken würde.

Jetzt setzen Sie plötzlich wieder auf eine gereinigte CDU, vorhin zerfiel sie noch?

Grosser: Nein, das eine halte ich für möglich, das andere für wahrscheinlich.

Warum eigentlich sehen Sie beim Auftauchen einer neuen bürgerlich-rechten Alternative immer gleich einen strammen Durchmarsch nach ganz rechts?

Grosser: Österreich versuchte sich nach 1945 nur als Opfer darzustellen, was ein Hohn und Witz ist. Deshalb fühlte man sich nicht verantwortlich. In der Bundesrepublik dagegen wurde ein sehr gute und schöpferische Vergangenheitsbewältigung betrieben. Deshalb war in Österreich der Erfolg von Haider möglich. Mit Haider meine ich den Gedanken, wir wollen nicht mehr gründen auf Rechtsstaat und Verfassungsdemokratie, sondern auf einen Patriotismus der Reinheit.

In anderen Ländern funktioniert der rechte Mittelweg doch auch.

Grosser: Um Gottes willen, ich hoffe wir bekommen in Frankreich eine Abschwächung des Front National. Dessen Erstarken hängt auch mit der mangelnden französischen Vergangenheitsbewältigung zusammen. Wenn bürgerlich-rechts heißt, man gibt der Wirtschaft den Vorrang vor der Gerechtigkeit, so ist das schon schlimm. Aber es darf nicht sein, daß man einem Nationalismus den Vorrang vor der Rechtsstaatlichkeit einräumt.

Sie haben auf die große Enttäuschung hingewiesen, die Helmut Kohls Verhalten auch für Europa bedeutet. Demnach hat also Kohl, so wie er als deutscher Staatsmann jetzt Deutschland beschädigt hat, als europäischer Staatsmann Europa beschädigt?

Grosser: Ich würde sagen, ja.

 

Prof. Dr. Alfred Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren. 1933 floh die Familie vor den Nationalsozialisten. 1937 wurde Grosser französischer Staatsbürger. Dr. phil., Prof. emeritus am Pariser Institut für politische Wissenschaften. Er ist ständiger Leitartikler verschiedener französischer Zeitungen. 1975 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels als "Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente".

Buchveröffentlichungen in deutscher Sprache: Mein Deutschland (Hoffmann & Campe, 1993), Was ich denke (Goldmann, 1995), Deutschland in Europa (Beltz Quadriga, 1988, ab Juli als Taschenbuch im Rowohlt Verlag)


 
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