© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/00 21. Januar 2000

 
Quo vadis, FDP?
von Menno van Heeckeren

Es gehört mittlerweile fast schon zum Ritual, die Frage zu stellen, ob der parteipolitische Liberalismus in Deutschland überhaupt noch gebraucht wird. Nicht selten haben Publizisten für die FDP bereits das Totenglöcklein geläutet. Es hieß, daß die FDP ihre Verankerung in sozialen Milieus verloren habe. Das sogenannte "postmaterialistische" Großstadtmilieu ziehe es zu den Grünen, während der alte und neue Mittelstand auf die alte und neue Mitte von CDU und SPD setze – nur nicht auf die von Westerwelle proklamierte "radikale Mitte".

Meistens führen die politischen Beobachter für den Verfall der FDP noch einen zweiten Grund an: ihre Spagatstellung zwischen Funktions- und Programmpartei. Das macht schon das Führungsduo exemplarisch deutlich: Hier der vorsichtig formulierende, stets auf Einklang mit dem Wunschpartner CDU bedachte Gerhardt, dort der ungestüme, für "Marktwirtschaft pur" eintretende Westerwelle, der die Opposition als Profilierungschance begreift.

Solche Analysen sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Trotzdem sind sie mit Vorsicht zu betrachten: Die These von der Entbehrlichkeit eines parteipolitischen Liberalismus in Deutschland ist nämlich so alt wie die FDP selbst. Schon die Neugründung einer liberalen Partei nach dem Krieg war von Skepsis begleitet. Es wurde die Frage gestellt, ob die liberalen Parteien, die in der Weimarer Republik so kläglich vor dem Nationalsozialismus kapitulierten hatten, überhaupt die Chance eines Neubeginns verdient hätten. Und falls es eine solche Neugründung geben sollte, würde diese dann nicht bald an den Gegensätzen zwischen dem stark föderalistisch und bürgerrechtlich orientierten süddeutschen Flügel und den nationalliberal ausgerichteten nord- und mitteldeutschen Landesverbänden zerbrechen?

Daß diese Frage in der politischen Alltagspraxis der fünfziger Jahre keine parteigefährdende Sprengkraft entfaltete, hängt von zwei – für die FDP typischen – Konstellationen ab. Zum einen war da die disziplinierende Wirkung der Regierungsteilnahme (damals noch nicht bekannt unter dem Begriff des "Funktionsarguments), zum anderen gab es an der Spitze ein personalpolitisches Gleichgewicht, mit dem die beiden Flügel leben konnten. Bundespräsident Theodor Heuss verkörperte den typisch schwäbischen "Honoratiorenliberalismus", während der Parteivorsitzende Thomas Dehler mit seiner Kritik an Adenauers "Westbindung" den national-neutralistischen Flügel bediente.

Doch schon in den frühen sechziger Jahren kündigten sich schwierigere Zeiten an. Das Verhältnis zum Koalitionspartner CDU wurde zunehmend eisiger; zugleich war der frühen FDP stets peinlich bewußt, daß sie zur Koalition mit der Union keine Alternative hatte. Schwerwiegender noch waren die Versäumnisse, denen sich die FDP in ihrer Oppositionszeit (während der "Großen Koalition") zuschulden kommen ließ. Sie hätte sich, angesichts der in dieser Periode stark zugenommenen staatlichen Regulierung, als die einzig wahre Erbin Ludwig Erhards darstellen können. Daß sie das unterließ, trotz ihrer damaligen Rolle als Oppositionspartei, läßt Zweifel an ihrer ideologischen Eigenständigkeit aufkommen, so das Fazit des Bielefelder Politikwissenschaftlers Lothar Albertin. (Albertin vertrat diese These 1979 anläßlich eines Kongresses zur Geschichte der FDP).

Als dann die FDP-Führung mit der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten und den "Freiburger Thesen" die Weichen in Richtung sozialliberale Koalition stellte, nahm sie den Verlust eines wichtigen Teils ihrer Stammwählerschaft billigend in Kauf. Die nationalliberalen Landesverbände Hessens und Nordrhein-Westfalens sahen sich mit massiven Parteiaustritten konfrontiert.

Diese Abtrennung des nationalliberalen Flügels kann in ihrer soziologischen und ideologischen Tragweite kaum überschätzt werden. Man sollte nicht vergessen, daß der deutsche Liberalismus nicht nur eine Freiheits-, sondern in erster Linie eine nationale Bewegung gewesen ist. Dieser nationale Impetus läßt sich bis auf die 1848er Bewegung zurückverfolgen, deren erklärtes Ziel die nationale Einheit und die Überwindung des kleinstaatlichen Absolutismus war. Als dann 1871 die deutsche Einheit realisiert wurde, standen die Liberalen vor einem strategischen Dilemma: Sollten sie, da doch ihr großes Ziel erreicht war, realpolitische Verantwortung übernehmen oder sollten sie an ihrer antimonarchistischen Gesinnung festhalten?

Bekanntlich entschieden sie sich – wenigstens die Nationalliberalen – für das Erste. Dabei nahmen sie konstitutionelle Unvollkommenheiten (vorübergehend?) in Kauf, doch es wäre ahistorisch, ihnen deshalb Untreue an ihren Prinzipien vorzuwerfen.

Daß Liberale wie Friedrich Naumann und Max Weber keine "Verfassungspatrioten" im Sinne von Jürgen Habermas gewesen sind, kann man ihnen aus vom heutigen Standpunkt aus schwer zum Vorwurf machen. Ihre politische Vorstellungswelt hat mit dem heutzutage gängigen Bild des Liberalismus nämlich wenig zu tun.

Die damaligen Liberalen richteten sich stets nach dem Primat der Außenpolitik: ihr letzter Beweggrund war dabei kein normativer, sondern, um mit Carl Schmitt zu sprechen, ein existentieller: Es ging ihnen um die Selbstbehauptung des deutschen Volkes. Dieses Streben wiederspiegelt sich in der Kolonialpolitik: Vor allem die Liberalen waren davon überzeugt, daß die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit der Deutschen nur um den Preis einer expansiven "Flottenpolitik" zu gewährleisten seien. Daß eine solche Politik keineswegs undemokratisch oder gar "reaktionär" angelegt war, zeigen die Bemühungen der "Kolonialliberalen" Max Weber und Friedrich Naumann um die Integration der Arbeiterschaft in den Staat.

So bemerkte Friedrich Naumann schon 1903, anläßlich seines Beitritts zur Freisinnigen Vereinigung: "Der bürgerliche Liberalismus (...) hat die industriellen Massen zunächst als nicht vorhanden betrachtet. Er war zu fein für den Arbeiter, hatte keine Fähigkeit, die politische und soziale Bedeutung dieser Klasse zu begreifen. Es war im bürgerlichen Liberalismus so viel Verachtung des gewöhnlichen Volkes."

Eine solche Mixtur aus demokratischer Gesinnung und nationaler Politik war für den Nationalliberalismus der Kaiserzeit nicht untypisch. Während der Weimarer Republik geriet dieser "soziale" Flügel des Nationalliberalismus weitgehend in Vergessenheit. Die "legitime Erbin" des Nationalliberalismus, die Deutsche Volkspartei (DVP) verfiel schon rasch zu einem Interessenverein der Schwerindustrie. Daß sie ein talentierter Politiker wie Gustav Stresemann in ihre Reihen integrieren konnte, war eher die Ausnahme.

Nach dem Krieg drohte der Nationalliberalismus noch weiter in Mißkredit zu geraten. Die Lage wurde noch dadurch zugespitzt, daß die nordrhein-westfälische FDP zum Sammelbecken von mehr oder weniger stark "Belasteten" wurde. Durch den "Fall Werner Naumann" geriet diese "Politik der offenen Tür" in die Schlagzeilen.

Naumann ehemaliger Staatssekretär von Joseph Goebbels, hatte es in der nordrhein-westfälischen FDP bis zum engen Berater des damaligen Landesvorsitzenden Friedrich Middelhauve gebracht. Dabei war Nauman kein Einzelfall, so ist den Aussagen des damaligen "Kronprinzen" von Middelhauve, Wolfgang Döring, zu entnehmen. Döring wollte "die Tore weit nach rechts öffnen, um Millionen enttäuschter, aber gutgläubiger Nationalisten und Soldaten für die liberale Partei zu gewinnen." Wegen dieser großzügigen Integrationspolitik wurde die FDP in der Presse heftig angegriffen und von der (englischen) Besatzungsmacht mit Auflösung bedroht.

Bei aller – berechtigten und unberechtigten – Kritik, die wegen dieser Integrationspolitik an der damaligen FDP geübt worden ist, muß man doch auch die Erwägungen der damaligen Parteiführung in Betracht ziehen. Diese waren – sowohl unter staatspolitischen als auch wahlsoziologischen Gesichtspunkten – durchaus nicht unvernünftig. Erklärter Zweck der FDP war es, deutschnational Denkende auf den Boden der bundesrepublikanischen Verfassung zu bringen. Hätte sie den mehr oder minder Belasteten den Eintritt in die Partei verwehrt, so hätte das Protestpotential gegen die Bonner Demokratie womöglich unkontrollierbare Ausmaße angenommen.

Dabei wurde die FDP-Führung nicht von purem Idealismus motiviert. Sie betrieb auch Klientelpolitik. Wahlsoziologische Studien belegen nämlich, daß in der späten Weimarer Republik der Aufstieg des Nationalsozialismus in der Wählergunst vor allem zu Lasten der beiden liberalen Parteien erfolgte. Rechtsextreme und liberale Parteien, so die Studien, umwarben das gleiche Wählermilieu: das antiklerikal, insbesondere antikatholisch eingestellte Mittelstandsmilieu, das seine Hochburgen vor allem in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen hatte.

Der Union gelang es nicht, dieses überwiegend protestantisch orientierte Wählerpotential an sich zu binden. Gerade in den Regionen, in denen die CDU ihren Charakter als interkonfessionelle, bürgerliche Sammlungspartei unter Beweis stellen wollte, scheiterte sie an diesen protestantisch-konservativen Schichten. Denen war nicht nur der überwiegend katholische Charakter der CDU suspekt, sondern auch ihre "christlich-sozialistische" Programmatik. Dieses betont preußisch eingestellte nationalliberale Milieu mußte sich in der rheinbündisch-katholischen Bundesrepublik wie in einer Diaspora vorkommen, entsprechend der Lage der Katholiken im Kaiserreich.

Ebendieser Mangel an sozialer Verankerung erklärt den großen Zulauf zur NPD in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Diese "fetten Jahre der NPD" gingen nämlich weitgehend auf Kosten des nationalliberalen FDP-Flügels. Die definitive Abtrennung der Nationalliberalen von der FDP erfolgte nach der Bildung der sozialliberalen Koalition. Die von Siegfried Zoglmann initiierte Abspaltung "Nationalliberale Aktion" entpuppte sich schon rasch als nicht überlebensfähig: die meisten Nationalliberalen – unter ihnen Erich Mende – fanden ihre politische Heimat in der CDU/CSU.

Nach gut 30 Jahren hat sich an diesem Sachverhalt wenig geändert. Es hat zwar hin und wieder Versuche zu einer Neubelebung des Nationalliberalismus gegeben, aber solche Versuche endeten in der Regel außerhalb der Partei. Die Beispiele Brunner und Kappel bestätigen dies. Inzwischen schreitet die Marginalisierung der FDP fort. Glauben wir den Kommentatoren der Zeit und Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Galionsfigur des linken FDP-Flügels, so soll das vorwiegend dem Verfall des "Bürgerrechtsliberalismus" zuzuschreiben sein.

Doch wie plausibel ist eine solche Diagnose? Glaubt man wirklich, mit Standfestigkeit gegen den "Großen Lauschangriff" Wahlen zu gewinnen? Wohl kaum. Die FDP übt sich vor allem in Phantombekämpfung. Daß die FDP auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch immer vortäuscht, daß die größte Gefahr für den Bürger vom Staat ausgeht, ist geradezu absurd.

Da ist schon eher an die sogenannte Globalisierung zu denken, wie es gerade der Griff des britischen Konzerns Vodafone nach Mannesmann wieder gezeigt hat. Die Wähler scheinen das besser zu begreifen als die FDP und laufen ihr in Scharen davon. Doch die Westerwelle-FDP braucht das Schreckgespenst des Steuerstaates, um über den Verlust ihrer ursprünglichen Wählermilieus hinwegzutäuschen.

Das hat sogar seine geschichtsphilosophische Logik: Liberale dachten stets in der Dichotomie von Staat und Gesellschaft. Jetzt, da dem politischen Liberalismus die gesellschaftliche Verankerung abhanden gekommen ist, bleibt ihnen nur noch der Staat – der dankbar als Buhmann vorgeführt wird.

 

Menno van Heeckeren ist Student und Publizist. Er lebt in den Niederlanden.


 
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