© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/00 21. Januar 2000

 
Parteien: Zwanzig Jahre Die Grünen (Zweiter Teil)
Die Partei, die nicht deutsch sein will
Rolf Stolz

Der Karlsruher Gründungskongreß wurde beherrscht vom Streit über organisatorische Fragen. Erst die folgende Bundesdelegiertenversammlung in Saarbrücken im März 1980 verabschiedete einen seit Anfang 1979 diskutierten und überarbeiteten Entwurf als "Saarbrücker Programm". Kennzeichnend für dieses Programm, das trotz mancher Mängel die klarste und umfassendste Orientierung der Grünen geblieben ist: Zu vielen einzelnen Fragen – von der Ernährung bis zur Fischerei – wird Stellung genommen, aber die spezifische deutsche Situation kommt nur am Rande vor. Diese im Guten wie im Miserablen so unerhört deutsche Partei reflektiert in keiner Weise, was sie eigentlich mit und in Deutschland zu schaffen hat, warum gerade hier das historische Novum einer ökologischen Bewegungspartei entstanden ist. Es kommt nicht in den Blick, unter welchen konkreten nationalen Bedingungen heimisches und fremdes Kapital wirtschaftet und Politik macht, unter welchen Bedingungen die emanzipativen Kräfte antreten. Es war ja kein Zufall, daß gerade in Westdeutschland, diesem Halb-Land mit halber Selbstbestimmung, nie zu Ende geführter Demokratisierung und alsbald abgebrochener Entnazifizierung, die erste große ökologisch-politische Bewegung der Welt entstand.

Zu den Besonderheiten der deutschen Situation zählten die Spaltung zwischen den Blöcken, die Rolle der BRD wie der DDR als stärkster Juniorpartner und stabilster Faktor im jeweiligen Block, die völkerrechtlichen und materiellen Souveränitätsbeschränkungen, die wechselseitig aufeinander bezogene Stationierung von Besatzungstruppen und Vernichtungspotentialen, die Verweigerung von Vereinigung und vertraglich gesichertem Friedensschluß, die Konservierung der militärischen Stellung der Sieger bei Kriegsende in Frontlinie, die sehr leicht zum Ausgangspunkt für den nächsten und letzten Weltkrieg hätten werden können.

Die Folgen der Spaltung wurden nicht thematisiert

Blind für diese historischen Vorgegebenheiten entwirft das "Saarbrücker Programm" eine Zukunfstvision, die in ihrer Unkonkretheit und Abstraktheit wenig allgemeine und noch weniger tagespolitische Bedeutung besitzt. Probleme wie die Ursachen und Folgen der Spaltung Deutschlands, die Truppenstationierung, die Souveränitätsproblematik usw. kommen in diesem Text nicht vor. Immerhin aber hielt das "Saarbrücker Programm" wie bereits das Programm zur Europawahl 1979 am Ziel der Einigung Deutschlands und Gesamteuropas fest. Konnte man die Unklarheiten und Unvollständigkeiten des "Saarbrücker Programms" in Sachen Deutschland noch entschuldigen mit der Jugendlichkeit der grünen Partei und vieler ihrer Gründungsväter und -mütter, so fällt es heute, nach zwei Jahrzehnten Parteigeschichte, schwer, dort noch Kinderkrankheiten und Jugendsünden zu sehen, wo Verknöcherung, gewohnter Trott und Altersstarrsinn die Haltung vieler Gründer zu der Nation prägen, die die Partei hervorgebracht hat.

Am Beginn der Grünen stand eine lebhafte, lebendige, aber auch oft quälend-schmerzhafte Auseinandersetzung über Weg und Ziele der Bewegungen, aus denen die grüne Partei hervorging und die sie eigentlich politisch voranbringen und vertreten sollte. Viel zu früh, lange bevor tragfähige Analysen erarbeitet waren und das Bewußtsein der eigenen Anhängerschaft prägen konnte, wurde dieser Denkprozeß abgebrochen und versandete in einem kleinlich-ergebnislosen Streit um inhaltsleere Kompromißformulierungen und programmatische Warenhauskataloge voller unbegriffener Leerstellen, vollmundiger Versprechungen und wohlfeiler Selbstüberhöhungen. Nicht das Interesse der Welterkenntnis und Weltveränderung wirkte theoriebildend, sondern die Suche nach verbalen Rechtfertigungen und werbewirksamen Schlagabtausch-Parolen für Interessenkoalitionen und -kollisionen. Sehr bald schon wurden Ämterschacher und Taktiererei, Strömungsklüngel und inhaltsleere, ziellose Geschäftigkeit kennzeichnend für die Grünen.

Das Totschweigen von Differenzen wird typisch

Auf diesem Wege wurden die Grünen zur Drehtür-Partei, bei der der Zustrom neuer Leute quantitativ wettgemacht wird durch das Weggehen von vielen aus der Gründergeneration und von etlichen Karrieristen, die anderswo schneller zum Zuge zu kommen hoffen. Aber der Aderlaß unter den Gründungsvätern und -müttern der ersten Stunde, unter denen, die angesichts des klaffenden Abgrunds zwischen hehrem Anspruch und trostloser Realität der grünen Partei verzweifeln, bedeutet zugleich ein langsames geistig-moralisches Ausbluten der Organisation.

Und was hinzukommt: Hatten die SPD vor 1914 oder die KPD vor 1933 ihre Differenzierungs- und Abspaltungsprozesse noch weitgehend im internen und öffentlichen Richtungsstreit, im Kampf um Wahrheiten und Programmpositionen vollzogen, so ist für die Grünen typisch das Totschweigen der Differenzen, das klammheimliche Mundtotmachen der Abweichler durch Gerüchtefrabrikation und gezielte Diffamierungen, das Verweigern jedes offenen Meinungsstreits durch den pfaffenhaften Quietismus des machtbesessenen Taktierens. Die Auseinandersetzung um Inhalte wird ersetzt durch Demagogie. So behauptete der grüne Bundestagsabgeordnete Helmut Lippelt 1989, 90 Prozent der Grünen stünden hinter der parteiamtlichen Deutschlandpolitik ("auf ewig zweigeteilt") – natürlich ohne daß je jemand geklärt hätte, ob es nicht vielleicht 20 oder 30 oder mehr Prozent waren, die an der grünen Basis anders dachten als die Chefs in Bonn und ohne überhaupt noch zu reflektieren, ob nicht auch 90 Prozent ganz gewaltig danebenliegen können.

Die heutigen Grünen bleiben gefangen in den Akzentsetzungen und Denkweisen der späten achtziger Jahre, in den engen Grenzen eines bürgerlich-parlamentarischen Liberalismus, eines ökologisch drapierten Umweltschutz-Reformismus. Wir waren schon einmal weiter in den Einsichten und in der Konsequenz des Handelns. Am Ende der siebziger bzw. am Anfang der achtziger Jahre, als die Notwendigkeit der politischen Reformation an Haupt und Gliedern und der ökologischen Revolution mehr war als die ideologische Spezialität einiger weniger Unbeirrbarer und Unbestechlicher. Aber spätestens Mitte der achtziger Jahre entwickelte sich eine merkwürdige Konvergenz: von unterschiedlichsten Ausgangspunkten aus fanden sich diejenigen zusammen, die die grüne Partei von innen heraus zerstörten, ihre Programmatik an vorherrschende Vorurteile und das von der Meinungsindustrie gewünschte Stromlinienprofil einer flotten Mittelschichtlobby anpaßten und so aus einer einzigartigen Hoffnung eine hundsgemeine Enttäuschung werden ließen. Man suchte und fand sich – auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, auf der Basis der Gegnerschaft zu jeder grundsätzlichen Infragestellung des Bestehenden und zu jeder radikalen Veränderung. Einig im Ziel, die politische Konkurrenz mit wohlfeilen Reformphrasen auszustechen und völlig neue, geradezu unerhörte Oberflächenretuschen und Schönheitsreparaturen durchzudrücken, strebten diese aufstrebenden jungen Talente in fröhlichen Seilschaften zu den lichten Höhen der Macht.

Ein grüner Rückfall in die Fortschrittseuphorie

Die Pöstchenjäger spannten ihre Büchsen, die Gesundbeter und Politdekorateure wetteiferten in ihrem Bemühen, dem alten Elend neuen Glanz zu verleihen. Eine Hoch-Zeit des Karrierismus und der Charakterlosigkeit begann, ein Hoppla-jetzt-kommen-wir-Rückfall in das alte Denken vorgrüner Fortschrittseuphorie und Machbarkeitsillusionen. Verlorene Söhne, die eben erst der gestrengen Mutterpartei SPD entlaufen waren, schufen sich ihr neues Jerusalem durch die Sozialdemokratisierung der Grünen. Zum Kommunistenfresser avancierte Renegaten, verhinderte Restaurateure der Arbeiterbewegung und frisch gestylte Salonlinke verschiedenster Couleur betrieben mit neuem Vokabular und alter Blindheit eine neue Variante strukturkonservativer Modernisierungspolitik. Die Zukunft reduzierte sich nun auf die nächste Wahlperiode. Aus der spirituellen Verpflichtung gegenüber der Erde wurde die parlamentarische Anbindung an das laute Geschrei der Klientel-Cliquen. Das ökologische Denken wurde abgelöst durch universell verwendbare Leerformeln wie "Umweltschutz" und "ökologische Marktwirtschaft". Aus der unerbittlichen Mahnung zur Umkehr wurde eine dezente Bitte, Recycling und Müllvermeidung nicht ganz zu vergessen.

Für oder gegen das eigene Land und die Zukunft

Als 1989 die Frage "Was soll bloß aus Deutschland werden?" in den Mittelpunkt des politischen Geschehens, an die erste Stelle aller realen und realistischen Tagesordnungen rückte, hatten die Führungsleute der Grünen längst in ihrer fanatischen Status-Quo-Verteidigung, in ihrer Unkenntnis der deutschen und europäischen Geschichte, in ihrer Ignoranz gegenüber den Einheits- und Befreiungsbestrebungen in Ost und West, in ihrer Staats- und Parlamentsfixiertheit, in ihrem perspektivlosen Handeln von Wahltermin zu Wahltermin selbst die SPD weit hinter sich gelassen. Natürlich hätte eine grüne Selbstbestimmungspolitik in den damaligen Wendezeiten nicht alle Probleme lösen können. Aber ohne eine solche Politik war alles andere nichts, wurden die vielen Initiativen, Gesetzentwürfe und Kampagnen der Grünen zur verbalen Selbstbefriedigung, zur Schau um der Schau willen.

Mit dem Godesberger Parteitag und mit der Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30. Juni 1960 wurde endgültig das Einschwenken der SPD auf eine eindeutige Westorientierung, auf Staats- und Militärbejahung, deutlich. Damit gab es – von kleinen Außenseitergruppen abgesehen – für volle zwei Jahrzehnte in der Bundesrepublik keine Partei mehr, die auf Blockfreiheit und Unabhängigkeit setzte. Die Grünen, pikanterweise in Karslruhe, am Sitz des Bundesverfassungsgerichts, gegründet, hatten die einmalige Chance, in diese Bresche einzudringen – und zugleich all die zu gewinnen, welche eine prinzipiell pazifistische und antimilitaristische Partei suchten (was die SPD bekanntlich selbst unter Bebel nicht sein wollte). Diese Chance wurde vertan. Zwischen verbalradikalem Gefühlspazifismus und verstohlener Militarisierung rieben die Grünen sich auf, bis niemand mehr wußte, was diese Partei eigentlich will.

Die Grünen haben sich alte politische Domänen wie die Ökologie fast widerstandslos entreißen lassen und keine neuen Themen besetzt. Sie haben nicht begriffen, daß gerade in kritischen Situationen (Massenarbeitslosigkeit, Kriegsgefahr) die meisten Menschen nach einem Hoffnungsträger ausschauen, der einen Ausweg aufzuzeigen verspricht. Zum Hoffnungsträger kann nur eine politische Kraft werden, die erstens einleuchtende, überzeugende Perspektiven aufzeigt, zweitens tatsächlich Hoffnung macht und nicht nur das Elend beredt beschreibt und die drittens zumindest den Eindruck von Geschlossenheit und Solidarität vermittelt. Der SPD gelingt es immer wieder, eine solche schöne Illusion dem Wähler zu verkaufen – eine alternative Partei könnte und müßte diese innere Solidität und Solidarität überzeugend praktizieren.

Erst recht fehlen Antworten der Grünen auf jene Themen, die die nächsten Jahrzehnte beherrschen dürften:

- die rapide sich zuspitzende weltweite ökologische Existenzkrise,

- die trotz aller gegenläufigen Entspannungs- und Abrüstungsbemühungen letzlich immer noch ungelöst gebliebene tödliche Bedrohung durch Konfrontationspolitik, Fremdtruppenstationierung und ABC-Potentiale,

- das Problem einer weltweit unkontrolliert anwachsenden Überbevölkerung,

- das spezielle Problem der Überalterung und Vergreisung der meisten Industriegesellschaften,

- die Notwendigkeit, angesichts der weltweiten Flucht- und Wanderungsströme und der sich in vielen Ländern verschärfenden nationalen Konflikte realistische, humane und demokratisch abgesicherte Weichenstellungen zu finden und durchzusetzen,

- der Kampf vieler Nationen und Völker um Selbstbestimmung, Souveränität und Unabhängigkeit,

- die Notwendigkeit, gesellschaftliche Existenzfragen so zu lösen, daß weder das bisherige liberalistische "Die Dinge laufen lassen" noch die schrittweise oder putschistische Übertragung aller Gewalt an den Moloch Staat oder an charismatisch-populistische Diktatoren zum Zuge kommen und

- die Notwendigkeit eines mehrheitsfähigen Konsenses in der Gesellschaft, wie man die Vielzahl drängender und allzulange verdrängter Probleme (Vordringen kulturloser und kulturfeindlicher Barbarei, Drogenabhängigkeit, Wirtschafts- und Gewaltkriminalität, Ausbreitung der Aids-Erkrankungen, Landschaftszerstörung und Zersiedelung, Verslumung von Stadtvierteln usw.) lösen kann.

Die Grünen werden keine besondere Rolle spielen

Zu all diesen bitteren Realitäten und großen Herausforderungen sagen die Grünen entweder nichts oder sie beten die rituellen Beschönigungs- und Beschwörungsformeln her, mit denen die christlich-sozialdemokratischen Liberalsozialisten in den Amtsstuben und Parlamenten seit Jahren schon die Misere fröhlich verewigen. Von daher sollte man weniger die Frage stellen, ob die Grünen als Partei das erste Viertel des neuen Jahrhunderts überstehen werden, sondern erstens fragen, ob sie in einigen Jahren eine nennenswerte Rolle spielen werden, zweitens, welche Rolle dies sein wird und drittens, welche politische Kraft den Kampf für die Freiheit unseres Volkes und unseres Landes, für seinen inneren und äußeren Frieden, für die Solidarität und selbstbewußte Einigkeit seiner Menschen führen wird.

Der erste Teil erschien in der JF-Ausgabe vom 14. Januar 2000

 

Rolf Stolz, Publizist, ist Gründungsmitglied der Grünen. Seit 1979 gehörte er der Bundesprogrammkommission an, die das "Saarbrücker Programm" erarbeitete. 1980 wurde er in den Geschäftsführenden Bundesvorstand der Grünen gewählt.


 
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