© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000

 
Parteien: Vor 20 Jahren fand in Karlsruhe der Gründungskongreß der Grünen statt
Ein Sammelsurium von Originalen
Rolf Stolz

Als die westdeutschen Grünen sich am 13. Januar 1980 in Karlsruhe als Partei gründeten und das Embryonalstadium der für die Europawahlen 1979 gebildeten "Sonstigen Politischen Vereinigung (SPV) Die Grünen" hinter sich ließen, waren sie die erste ökologische Massenpartei der Welt. Von ihrer Mitgliederzahl und ihren Stimmenzahlen her sind sie unter den alternativ-ökologischen Parteien Europas immer noch eine bedeutende Kraft. Die Grünen hatten zum Zeitpunkt ihrer Gründung jene Phase des randständigen, abseitigen Sektierertums schon überwunden, in der manch andere ökologische Partei wohl auf immer verbleiben wird. Zwar waren die Grünen des Jahres 1980 eine kleine Partei mit weniger als zwanzigtausend Mitgliedern, aber hinter ihnen stand eine breitgefächerte neue Bewegung von Umwelt- und Lebensschützern, Friedensaktivisten, Bürgerinitiativlern. Wenige Monate zuvor hatten die noch nicht parteimäßig organisierten Grünen bei den Wahlen zum Europaparlament auf Anhieb 3,4 Prozent der Stimmen erreicht.

Und heute, zwei Jahrzehnte später, nach so vielen äußeren Erfolgen? Der Kredit als ehrliche und unbestechliche Organisation, der Respekt als eine kraftvolle und entschlossene Bewegung, den die Grünen selbst bei ihren Feinden besaßen, ist verspielt und vergangen. In moralisch-progammatischer Hinsicht stehen die Grünen am Abgrund. Onkel Joseph, mediengestylter Menschen- und Komplementefischer und Chef der von Frankfurt nach Berlin transferierten Fischer-Gang, bezieht sein Renommee aus erfolgreichen Werbekampagnen, Erinnerungen an alte Zeiten und dem Ansehen, das man einem Politiker entgegenbringt, der einfach trickreicher und gerissener ist als seine Konkurrenten. "Würden Sie von diesem Herrn ein Auto kaufen?", fragten einst auf Richard Nixon gemünzte Anti-Plakate. Selbst die Fans des Außenministers dürften die entsprechende Anfrage mit "Nein Danke" beantworten.

Mit Volldampf dem Abgrund entgegen

Und die sonstigen Spitzenleute der heutigen Grünen? Wo ist auch nur einer, der das Rückgrat und das Format hat, sich diesem größten aller Führer entgegenzustellen, der als stimmenbringende "Wahlkampflokomotive" die Partei mit Volldampf Richtung Abgrund voranbringt? Im übrigen existiert eine todsichere Methode, die Grünen genau dort ankommen zu lassen: man muß sie nur weitermachen lassen wie bisher. Nein, kapitale Fehler und große Irrtümer sind nicht mehr nötig, um sie ins Abseits und ins Jenseits zu befördern. Der normale bürokratische Gang der Dinge, das Weiterwursteln in gehabter Manier, das kontinuierliche Unterpflügen unbequemer Kritiker, das konsequente Herumkurieren an der Oberfläche nebensächlicher Symptome – all das reicht aus, um das eigenverantwortliche Verschwinden der Grünen zu garantieren.

Die Grünen, die – lange ist es her – die Wunden der alten Mutter Erde heilen wollten, hängen selbst am Tropf. Sie, die der Welt eine kopernikanische Wende zu bescheren gedachten, werden ohne eine totale Umkehr der Wegzeichen nicht mehr aus ihrer Sackgasse herauskommen. Und je unvermeidlicher der Bankrott erscheint, um so weniger regt sich organisierter Widerstand.

Während die diversen Srömungspäpste und -päpstinnen sich wechselseitig die Schuld zuschieben und ihre Patentrezepte, Beruhigungsmittel und Durchhalteparolen anbieten, wird immer deutlicher, wie strömungsübergreifend und allumfassend die Misere ist, wie sekundär die Frage eines Überwindens der Fünf-Prozent-Hürde ist und wie wenig einzelne durchaus denkbare Wahlerfolge gegen die wachsende Neigung zum Selbstmord auf Raten und zur Selbstzerstörung durch Selbstbetrug helfen werden.

Die Grünen der Vorzeit Ende der siebziger Jahre und der Gründungszeiten waren ein sehr gemischtes, sehr farbiges und buntes Biotop. Schon die "Sonstige Politische Vereinigung", die nach ihrem Achtungserfolg bei den Europawahlen 1979 immer mehr zum Kristallisationskern aller alternativen Parteiprojekte wurde, war ein ebenso munteres wie anstrengendes Sammelsurium von Einzelkämpfern und Originalen, Querdenkern und Querköpfen.

Fast alle politischen Richtungen und Organisationsüberreste waren vertreten: Die Gesellsche Lehre der Erlösung aus den Banden von Zins und Zinseszins war ebenso zu finden wir die Steinersche Anthroposophie und der Liberaldogmatismus der gerade ihre Selbstliquidation betreibenden "KPD/Aufbauorganisation". Fast alles war möglich oder schien möglich. Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt saßen Rechte und Linke, Bürgerliche und Anti-Bürgerliche relativ friedlich an den wackligen Tischen der Naturfreundehäuser und Kneipenhinterzimmer und schlossen nicht mehr aus, einen gemeinsamen Weg zu finden. Es gab in reichlicher Anzahl randständige bis obskure Figuren, die (oft beeindruckende) Detail-Erkenntnisse verbanden mit einem hemmungslosen Drang, ihre Jünger in "Heiligen Familien" um sich zu scharen und sektenartige Kleinstparteien in der ohnehin kleinen grünen Partei aufzuziehen. Aber es gab Leben, Bewegung, bewegende Schicksale und bewegte Biographien.

Reichlich Stoff für Tragödien und Burlesken

Diese Zeit war reich an romanhaften bis romantischen Stoffen für Tragödien, Tragikomödien und Burlesken. Da sind zahllose Erinnerungen an Menschen, deren Freundschaft mir wichtig war wie Petra Kelly und August Haußleiter, aber auch an Menschen wie Herbert Gruhl, mit denen ich schnell, zu schnell "über Kreuz war".

Petra Kelly, bald schon zum Medienstar zumindest der Auslandspresse avancierte Europa-Grüne, die mit den alltäglichen Dingen, mit dem Radfahren wie dem Intrigenspinnen, ihre Probleme hatte, aber sich mit dem Sendungsbewußtsein und dem rhetorischen Feuer einer Jeanne d’Arc in die Bresche warf – auf ihre Art eine Heilige und eine der bewegendsten Frauen der mausgrauen Bonner Republik, immer unter Dampf, immer gehetzt, als hoffe sie, durch möglichst schnelle Flucht vorwärts vor sich selbst zu fliehen und jener Einsamkeit zu entgehen, der die Berufskrankheit der politischen (Selbst)Darsteller ist.

August Haußleiter, durch ein langes Leben hindurchgegangen, das vom im Dritten Reich nicht gerade parteikonformen Journalisten in die Gründung und den Vorstand der CSU führte und 1949 aus ihr heraus in vielfältige und immer wieder scheiternde Versuche ("Deutsche Gemeinschaft", "Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher"), dem Adenauerschen Separatismus eine ernsthafte patriotische Opposition entgegenzusetzten.

Auch Joseph Beuys warf seinen Filzhut in den Ring

Herbert Gruhl, ein knorrig-lutherischer Apokalyptiker, von seiner historischen Mission durchdrungen und tatsächlich ein großer Anreger und Durchdenker, ein ebenso geradliniger wie schwieriger Mensch, der in seiner teils überheblich wirkenden Nüchternheit weder für seine Parteikarriere noch für die grüne Sache Aufbruchstimmung und Siegeszuversicht verkörpern konnte, und der stets den schlimmsten als den wahrscheinlichsten Fall und als unausweichliches Gottesurteil vorwegzunehmen schien.

Hermann Schulz, rastloser Organisator und grauhaarige grüne Eminenz, jahrelang als Schatzmeister ein ruhender Pol in den um ihn herum wechselnden Vorständen – einer, der in den letzten Kriegstagen noch mit anderen Hitlerjungen an die Front geschickt wurde und deutlich älter war als die meisten Gründungsgrünen, einer, der mit einer jungen Frau noch einmal ein zweites und ganz anderes Leben wagte – aufgerieben in Intrigen und Grabenkämpfen hinter den Kulissen, bis das Herz nicht mehr wollte.

Und dann eine ganze Reihe beeindruckender Frauen im Großmutter-Alter: Grete Thomas, die erste Schatzmeisterin der Grünen, von Helmut Lippelt in einer geradezu byzantinischen Intrige aus dem Amt gedrängt; Ursula Schwarzenberger, von jugendbewegter Quirligkeit; Gustine Johannsen, wegen ihrer einstigen Tätigkeit beim Bund Deutscher Mädel (BDM) auf das Infamste diffamiert und gerade wegen ihrer Offenheit und Unbestechlichkeit von einigen Geheimbündlern attackiert, die aus dem "Kommunistischen Bund" zu den Grünen gestoßen waren.

Schließlich das Phänomen, daß ein Künstler von epochaler Bedeutung seinen Filzhut in den Ring warf und den Grünen beizustehen versuchte: Joseph Beuys. Schon bald erhob sich gerade gegen ihn das Raunen der grünen Spießbürger, die, weil sie sein Wollen und sein Werk gar nicht erst zu verstehen versuchten, dreist postulierten, "dem Wähler" könne man einen solchen unverständlichen Menschen nicht "vermitteln".

Auch wenn die "innere Geschichte" der grünen Anfänge noch nicht geschrieben ist (und die realen Antriebe und Konflikte dieser Zeit eher in künstlerischer Freiheit darzustellen wären als in den bemühten akademischen Fleißarbeiten Außenstehender und Nachgeborener) – eins ist offensichtlich: Die Entwicklung der Grünen ist der Prozeß eines langsamen Zuwachses an Wählerstimmen und öffentlicher Beachtung sowie eines rapiden Abnehmens an menschlicher Originalität und Substanz.

In der grünen Szene ist es sterbensöde geworden

Seit sich die stromlinienförmigen Macher, Polit-Manager, Amtsinhaber, Sesselverteidiger, Fraktionssprachrohre durchgesetzt haben, die als Funktionäre nach den Gesetzen des Apparates und zugleich nach den von den Medien und den konkurrierenden Parteien diktierten Gesetzen des politischen Marktes funktionieren, ist es in der grünen Szenerie aschgrau geworden, sterbensöde, traurig und tot. Daß die grünen Bundestagsabgeordneten schon in den Achtzigern Jahr für Jahr über tausend Pressemitteilungen produzierten, war nicht nur ein Symptom für Wurstelei und Warenhaus-Beliebigkeit, sondern zugleich ein Versuch, durch Quantität, Hektik und Aktionismus die beginnende Leichenstarre der Partei zu vertuschen.

Seit die Bundesversammlungen der Grünen ablaufen wie die Parteitage der alten Parteien, seit Überraschungen weitgehend ausgeschlossen sind durch geschickte Regie und die jedes eigene Denken ersetzende Chloro-Formierung mittels regionaler bzw. strömungspolitischer Stimmblöcke, bleiben den Grünen zwar die quälenden Debatten und wilden Szenen ihrer Frühzeit erspart.

Aber, was einst langwierig und schwierig war, ist nun langweilig und banal geworden. Nun müssen die Geschäftsführer versuchen, mit bunten Dekorationen, Gastvorträgen einbestellter Nicht-Insider aus dem In- und Ausland, die wie Folkoreeinlagen eingeplant werden, mit verbalradikalem Theaterdonner und gespielter Aufregung das selbstfabrizierte Vakuum auszufüllen. Die nur als Resonanzboden erwünschte Öffentlichkeit soll schließlich nicht bemerken, wie hier eine politische Partei zu Lebzeiten schon zu jener Lücke wird, die sie bei ihrem Verschwinden vielleicht nicht einmal mehr hinterlassen wird.

In der Anfangszeit, in der Aufbruchstimmung des Europawahlkampfes 1979 und in der Gründungsphase um die Jahreswende 1979/80, war noch die Bereitschaft gegeben, sich gegenseitig zu akzeptieren und Minderheitsvoten zu respektieren. Damals wurden die Impulse aus einer sozial und politisch sehr vielgestaltigen und widersprüchlichen Mitgliedschaft noch ernst genommen und aufgenommen in die Prozesse politischer und programmatischer Willensbildung. In einer Zeit, wo die vereinsmeierischen Strukturen des Zweckverbandes "Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen" sich bereits auflösten und anachronistisch wurden, wo andererseits noch keine neuen Apparatstrukturen aufgekommen waren, entsprach dem demokratischen Programm eine lebenskräftige innere Demokratie und eine große Bereitschaft, einander zuzuhören.

Mehr "Partei des Volkes" als die "Volksparteien"

Das Volk war in seinen Widersprüchen und Facetten mehr präsent in dieser jungen und im Werden begriffenen Partei als in allen anderen, und es konnte sich in ihr eher wiederfinden als jemals in der folgenden Zeit. Auch wenn die Wähler der Grünen in diesen nur mehr oder weniger repräsentativ durch Exponenten von Herbert Gruhl bis Rudi Dutschke und durch Außenseiter von Baldur Springmann bis Thomas Ebermann vertreten waren – dieses politische Experiment war realiter mehr "Partei des ganzen Volkes" als all die selbsternannten Volksparteien. Zwar gab es damals massive emotionale Konfrontationen zwischen der jungen Partei und Teilen des Volkes, es gab wechselseitig reichlich Distanz und Unverständnis, aber trotz allem hatten die Grünen begonnen, als breite Bewegung überall in der Gesellschaft Wurzeln zu schlagen.

Für die historische Bedeutung dieses Aufbruchs war es kennzeichnend, daß von rechts bis links Menschen sich auf die Grünen orientierten oder sich ihnen anschlossen. Wie einst auf dem Höhepunkt der antiautoritären Bewegung, als RCDSler sich an Besetzungsaktionen beteiligten und Burschenschafter dem SDS beitreten wollten, fanden sich jetzt gewesene Mitglieder der CDU und kommunistischer Gruppen, ehemalige NPD-Anhänger und Altanarchisten in einer gemeinsamen Bewegung wieder – und begriffen in aller Regel nicht, warum das so war und was man daraus hätte machen können.

Der zweite Teil erscheint in der nächsten Ausgabe der JF am 21. Januar 2000


 
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