© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000


Kreml-Astrologie: In deutschen Medien wird der Machtwechsel in Moskau unterschiedlich gedeutet
Rußlands Rückkehr zur Weltmacht
Wolfgang Seiffert

Wer wie ich seit Jahren in Rußland (vorwiegend, aber nicht nur, in Moskau) lebt und arbeitet und nur während der Weihnachts- und Neujahrsferien (die wegen des orthodoxen Weihnachtsfestes erst Mitte Januar zu Ende gehen) in Deutschland weilt, kann kaum der Versuchung widerstehen, einen ausgiebigen Blick in westliche Zeitungen zu werfen, schon weil solche in Moskau zwar zu haben, aber doch ziemlich teuer sind (ein Exemplar der Welt kostet 120 Rubel, was immerhin rund 10 Mark sind).

Doch wer sich solchem Zeitungsstudium hingibt, erlebt nicht nur sachliche Information, er staunt nicht nur darüber, daß manche Fragen, die hier im Westen über Rußland gestellt werden, an der rusischen Wirklichkeit vorbeigehen, wie Gerd Ruge in der Welt am Sonntag vom 9. Januar zutreffend feststellt, er lernt auch ein Rußland "kennen", von dem er in Rußland selbst nichts erlebt hat und wohl auch nicht erleben wird. Das kann manchmal durchaus vergnüglich sein, insgesamt aber fragt man sich doch bedrückt, wie so etwas überhaupt möglich ist.

Natürlich steht, seitdem Putin an die Spitze Rußlands kam, dieser Politiker bei der Information über Rußland im Mittelpunkt. "Der Spion, der aus der Kälte kam" (tageszeitung vom 3. Januar), "Putin – das Phänomen" (Neues Deutschland am gleichen Tage) – wer ist eigentlich dieser Mann wirklich, was will er, was bedeutet der Wechsel von Jelzin zu Putin?

Während Simon in der Neuen Zürcher Zeitung am 4. Januar zu dem wohl zutreffenden Ergebnis kommt, mit diesem Schritt sei ein "Machtwechsel verhindert worden", meint die Le Monde am gleichen Tage, es handle sich um "eine dritte Revolution" und während Alexander Rahr meint, man solle "Keine Angst vor Putin" (Welt vom 5. Januar) haben, warnt Jurij Afanassjew in der Süddeutschen Zeitung schon am 11./12. Dezember 1999 vor "dem russischen Bären" (warum russische Autoren, wenn sie im Westen publizieren, sich nur immer gleich den westlichen Klischees anpassen?)

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung läßt den amerikanischen Soziologen polnischer Herkunft Zbigiew Brzezinski (der schon seit langem für eine Teilung Rußlands in drei Regionen eintritt) darüber meditieren, ob Putin nun zu einem Pinochet oder einem Milosevic wird (6. Januar). Die Antworten, die auf diese Fragen gegeben werden, fallen unterschiedlich aus. Die einen sehen in Putin einen Mann, der "immerhin die Welt gesehen habe und offenbar innere Reformen durchführen wolle" (so die Neue Zürcher Zeitung "unter Berufung auf den amerikansichen Kandidaten für das Präsidentenamt, Bradley, 7. Januar), andere sehen in ihm den KGB-Spion, der jahrelang in der DDR "funktionierte" (WamS vom 9. Januar), wieder andere meinen, er sei ein Produkt des Jelzin-Clans, zu dessen Gunsten der Rücktritt Jelzins "der letzte Coup" (WamS vom 2. Januar) bzw. das Werk des "Drahtziehers Beresowskij" (FAZ vom 4. Januar). Und worin besteht Putins Programm? Die einen meinen, bis jetzt habe er keines, andere wieder vermuten, er werde "ein Reformprogramm der Stabilisierung" betreiben und nach außen Rußland wieder zur Weltmacht formen, wie Gerd Ruge in der WamS vom 9. Januar erklärt. Alle sind sich wohl darin einig, daß Putin Rußlands Zukunft als eine der drei Weltmächte neben den USA und China sieht, also in einer multipolaren Welt. Unklar erscheinen manchen das künftige Verhältnis Rußlands zu Europa, soll wohl heißen zur EU (Gerd Ruge; und Bannanas in der FAZ am 6. Januar).

Hingegen verweist Rahr in derWelt vom 5. Januar darauf, daß die Regierung Putin in ihrem EU-Strategiepapier, daß diese auf dem Helsinki-Gipfel der EU vorgelegt hat (im Oktober 1999) erklärte, daß sie sich enger an die EU anlehnen wolle.

Was daran verwundert, sind nicht die widersprüchlichen Meinungen (das ist normal), sondern das Verweilen bei Spekulationen, obwohl doch beide Fragen – die nach der Biographie Putins und die nach seinem Programm – in Rußland längst bekannt sind und die breite Zustimmung der Bevölkerung in Rußland zu Person und Programm Putins eben darauf beruhen. So konnte man schon bei Beginn der Duma-Wahlen in der relativ neuen russischen Zeitschrift Expert ausführlich nachlesen, wer Putin ist, woher er kommt und was er will. Auch hat Putin selbst sich mehrmals in der Öffentlichkeit (insbesondere im russischen Fernsehen) zu seinen Zielen geäußert, und auch in deutschen Zeitungen hat er dies selbst getan (SZ vom 23. Dezember und WamS vom 25. Dezember 1999 ).

Richtig ist, daß es noch kein formelles Programm gibt, mit dem der Kandidat Putin in den Präsidentenschaftswahlkampf geht. Doch erkennbar ist dies schon. Am nächsten kommt der Sache wohl Klaus-Helge Donath in der taz vom 3. Januar. Putin ist danach "Protagonist eines spezifischen russischen Entwicklungsweges". Erkennbar ist auch, worin dieser Weg innenpolitisch und außenpolitisch bestehen wird:

- die erreichten Eigentums- und Machtverhältnisse werden stabilisiert (nicht "reformiert"),

- auf dieser Grundlage geht alles nach Verfassung und Gesetz,

- weder wird die Verfassung geändert noch das inzwischen entstandene Rechtssystem; es wird ergänzt um seine noch fehlenden Elemente und vervollkomnet; z.B. durch das Steuerrecht,

- der bestehende Rechtsstaat wird gestärkt; Putin betonte ausdrücklich Meinungsfreiheit, das Recht auf (privates) Eigentum und Marktwirtschaft (die Behauptungen mancher westlicher Journalisten, das alles gebe es (noch) nicht, verwechseln die Probleme der Umsetzung dieser Prinzipien mit der geltenden Verfassungs- und Rechtsordnung,

- Lebensstandard und soziale Sicherheit werden grundlegend verbessert,

- die Wirtschaft wird in einem Zehnjahresprogramm einem Umbruch hin zu Hochtechnologie unterzogen.

Außenpolitisch bedeutet dies, daß Rußland sich schon jetzt als Weltmacht versteht, die weder weitere Territorialverluste noch politisch-moralische Demütigungen oder wirtschaftspolitische Diskriminierungen hinnimmt. Es ist dieses Konzept, daß hinter dem Tschetschenienkrieg steht und nicht "Putins -Image-Aufbau im Innern", wie Rahr am 5. Januar in der Welt meint.

Hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. Die Weltmacht Rußland kann es nicht hinnehmen, daß Mittelasien vom russischen zum amerikanischen Einflußgebiet wird (so zu Recht Quiring in derWelt vom 28. Dezember 1999). Diesen weltpolitischen Zusammenhang sieht auch Rahr: "Im Süden ist Rußland von den USA und der Türkei aus dem Kaspischen Raum fast verdrängt worden." Und da soll der "eigentliche Grund für den Tschetschenienkrieg" das innenpolitische Image des Wladimir Putin sein? Da hat wohl doch Putin eher Recht, wenn er am Neujahrsmorgen davon sprach, daß die russischen Soldaten in Tschetschenien dem Zerfall des russischen Staates ein Ende setzten.

Und eben dieser Politik stimmen die Russen mehrheitlich zu. Aber vielleicht ist Putin so doch "Ein Gefangener seines Krieges" (Gerd Ruge, WamS am 9. Januar)? Vielleicht geht den Russen doch das Geld für diesen Krieg aus? Schließlich muß Rußland allein bis März Schuldenzahlungen an den IWF in Höhe von drei Milliarden Dollar leisten (Tagesspiegel vom 8. Januar). Doch die Hoffnung mancher, den Russen würde bald das Geld ausgehen und ihr Interesse an neuen Westlichen Krediten würden sie bald zum Einlenken in Tschetschenien bewegen (Rahr), haben keine reale Chance. "Rußland wird den Anfang Oktober begonnenen Tschetschenien-Krieg ... noch Monate lang mühelos finanzieren können" (SZ vom 8./9. Januar), was Experten vor allem auf die gestiegenen Einnahmen aus den Erdölexporten zurückführen (ebenda), aber auch darauf, daß das russische Militär auf Altbestände zurückgreifen könne (Roland Götz).

Jürgen Conrad von der Deutschen Bank Economic Research meint sogar, daß Rußland seine IWF-Auflagen erfüllt habe und deshalb Ende Januar mindestens weitere 670 Millionen Dollar an Rußland vom IWF gezahlt werden (Tagesspiegel vom 8. Januar). Im übrigen hat Putin dem IWF erklärt, daß Rußland auf ausländische Kredite "zur Zeit nicht angewiesen sei" (SZ vom 8. Januar).

Rußland erzielte 1999 einen Außenhandelsüberschuß von 22 Milliarden US-Dollar. Auch deswegen wird sich die Hoffnung Wolfgang Templins auf eine Änderung der Haltung der USA und anderer Nato-Staaten zum Tschetschenienkonflikt nicht erfüllen (Welt vom 8. Januar).

Keine der großen Zeitungen beantwortet übrigens die Frage, warum die politische Gruppierung Luschkow/Primakow (Vaterland – ganz Rußland), auf deren Sieg doch alle im Westen gesetzt hatten, mit ganzen 12 Prozent der Wählerstimmen die Wahlen praktisch verloren hat und inzwischen zerfallen ist, während die "Partei der Einheit" und die "Union rechter Kräfte" soviel Stimmen erhielten, daß sie zusammen mit anderen und einer Reihe Direktkandidaten in der Duma für Putin eine Mehrheit bilden.

Der Hauptgrund dürfte darin liegen, daß letztere nicht nur als Vertreter der Positionen Putins galten, sondern daß die Generation der 20- bis 50jährigen in ihnen ihre Vertreter sah. Mit der infolgedessen folgerichtigen Erklärung Jelzins, er trete zurück, weil jüngere Politiker das Land führen müssen, ist die (vor den Duma-Wahlen) angekündigte Kandidatur des über 70 Jahre alten Primakovs gegen den 47jährigen Putin zur Makulatur geworden. Außerdem wäre ein Sieg Primakows politisch ein Schritt zurück vor Jelzin gewesen.

Was allerdings bleibt, ist der "Bremsklotz" der immensen Auslandsschulden, die aus dem Staatsbudget getilgt werden müssen: "10,3 Milliarden Dollar, knapp die Hälfte des gesamten Haushalts, muß Rußland in diesem Jahr für den Schuldendienst aufbringen", schreibt Susanne Landwehr in ihrem sachkundigen Bericht in der Süddeutsche Zeitung vom 8. Januar. Es liegt auf der Hand, daß eine Schuldenreduzierung für Rußland viel Luft schaffen würde, um seine Industrie zu modernisieren und daß auch die deutsche Wirtschaft davon profitieren könnte, wenn sie stärker in Rußland investierte. Ebenso liegt es auf der Hand, daß bei den gegenwärtig laufenden Verhandlungen im Londoner Club über die Auslandsschulden Rußlands Deutschland eine konstruktive Rolle spielen könnte, um in dieser Frage mit Rußland einen Schritt weiter zu kommen.

Deshalb freute es mich, als die Welt von mir ein Interview wünschte, daß ich dann auch termingerecht gab (siehe Seite 9). Doch trotz Zusage erschien es nicht und der stellvertretende Chefredakteur Ralf Neubauer teilte mir auf Anfrage mit: Das sei "PR für Rußland".

Würde man die westlichen Klischees vom Rußland der Oligarchen auf Deutschland übertragen, müßte man jetzt fragen: "Welcher Beresowski hat da eingegriffen?" Doch mich erinnert dieses Geschehen mehr an meine Jahre in der DDR. Als ich dort als Direktor des Institutes für ausländisches Recht und Rechtsvergleichung mit Vorlesungen und Publikationen zum damals sich erst entwickelnden Recht der EG begann, wurde mir vorgeworfen, ich treibe "Propaganda für den Klassenfeind". Ich dachte, das sei mit dem Untergang der DDR vorbei ...

Wenn das im wiedervereinigten Deutschland noch öfter vorkommen sollte, stünde es nicht nur schlecht um das Urheberrecht; man müßte sich dann auch wünschen, daß der Bundespräsident in seiner nächsten Neujahrsansprache den Passus aus der Neujahrsansprache von Putin aus diesem Jahre übernimmt, in dem dieser versichert, daß Redefreiheit und Infomationsfreiheit zuverlässig vom Staat geschützt werden.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert, 1926 in Breslau geboren, studierte an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Jura. Von 1967 bis 1978 leitete er das Institut für ausländisches Recht und war zeitweise Vizepräsident der Gesellschaft für Völkerrecht der DDR. Nach seiner Aussiedlung 1978 lehrte er an der Universität Kiel, wo er bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht war. Heute ist Seiffert Generalsekretär des Zentrums für deutsches Recht im Institut für Staat und Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften.


 
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