© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/00 07. Januar 2000


Nachkriegszeit: Wie Adenauer und Schumacher als Fürsprecher der Deutschen auftraten
Ablehnung der Kollektivschuld
Alfred Schickel

Die Zeit nach 1945 erscheint vielen trotz ihrer größeren Nähe zur Gegenwart ähnlich "dunkel" wie das Mittelalter. Dabei hat sich – gerade für die Deutschen – in den Nachkriegsjahren die größte Enteignungs- und Entwurzelungsaktion ihrer Geschichte zugetragen: die Vertreibung der Ost- und der Sudetendeutschen. Der internationale Sachverständige Felix Ermacora nannte den Vorgang ob seiner Blutopfer und biologischen Folgen ein Genozid.

Die zeitgenössischen deutschen Politiker verschlossen vor diesem Tatbestand nicht die Augen, sondern nahmen sich die Freiheit, die Verantwortlichen offen zu kritisieren; gleichgültig, ob es den Besatzungsmächten im Land gefiel oder nicht. Sie ließen sich den Mund weder durch den Umstand der bedingungslosen Kapitulation noch durch die totale Herrschaft der Sieger verbieten.

So fühlte sich Konrad Adenauer am 23. März 1949 verpflichtet, vor der Schweizer Gruppe der Interparlamentarischen Union in Bern einige Klarstellungen zu treffen indem er erklärte, daß "nicht das deutsche Volk am 8. Mai 1945 kapituliert" habe, sondern "die deutsche Armee" und daß "die Welt gut daran" täte, "sich daran zu erinnern". Zugleich kritisierte er die Besatzungspolitik der Alliierten und nannte sie mit ihrer Demontagepraxis ein "Mittel zur Beseitigung der deutschen Konkurrenz", da sie "auch auf ganz anderen Gebieten als dem der Rüstungsindustrie verwendet" werde. Die Enteignung der deutschen Patente bezeichnete Adenauer glattweg als "Diebstahl" und bestritt, daß mit der Kapitulation "die gesamte Regierungsgewalt in Deutschland auf die Alliierten übergegangen" sei.

Offene Worte, die sich nachgeborene deutsche Politiker nicht einmal nach 50 Jahren herauszunehmen wagten und die sich auch nicht in den verbreiteten Geschichtsbüchern finden; deren inhaltliche Wiederholung der mittlerweile etablierten "Selbstzensur" zum Opfer fallen würde. Und dies teils aus öffentlicher Beflissenheit, teils aus geschichtlicher Unkenntnis, wobei sich beide Defizite zunehmend gegenseitig verstärken. Das Unwissen über frühere Vorgänge macht in bestimmten Situationen gefügiger und der Drang nach unbedingter Beliebtheit bei der Umwelt die Zahlungswilligkeit größer.

Nicht so bei Adenauer. Er wußte von den bereits entrichteten Reparationen, die sich die Sieger und ihre Verbündeten gleich nach Kriegsende zugesprochen und alsbald genommen hatten. Etwa die Restbestände der deutschen Handelsflotte mit 249 Einheiten, darunter 14 Passagier- und 30 Tankschiffe sowie zwei schwimmende Walfischisiedereien, welche die Siegermächte unter sich verteilten und dabei Jugoslawien ebenso bedachten wie die damalige Südafrikanische Union. Konrad Adenauer kannte auch die Denkschrift, die der Bremer Senator Harmssen im Auftrag der Ministerpräsidenten der Westzonen über "Die deutschen Reparationsleistungen und die Wirtschaftslage" verfaßt hat. Danach belief sich die deutsche Wiedergutmachungsleistung bis Mitte 1947 auf über 177 Milliarden Reichsmark (oder 71 Milliarden Vorkriegsdollar), wobei zur Bewertung der "Demontagen für Reparationszwecke seitens der Alliierten" bemerkt wurde, "daß die Demontagekosten im Durchschnitt 150 Prozent des auf 12,5 Milliarden Mark gutgeschriebenen Wertes ausmachen". Der Tschechoslowakei waren von der "Alliierten Reparationskonferenz" im übrigen zusätzlich zu den Milliardenwerten der enteigneten Sudetendeutschen noch "4,3 Prozent der deutschen Gesamtreparationen" zugewiesen worden, so daß weitere Forderungen Prags an Deutschland damals undenkbar erschienen.

Ähnlich wie Adenauer schätzte auch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher die von Deutschland abverlangten Opfer und Verzichte als Wiedergutmachung für die angerichteten Kriegsschäden ein, wenn er am 20. Juni 1949 auf einer Versammlung in Gelsenkirchen feststellte: "Deutschland hat jetzt schon mehr an Reparationen bezahlt als nach dem Ersten Weltkrieg. Es erkennt zwar die Verpflichtung an, Wiedergutmachung zu leisten, aber durch den provisorischen Verlust seiner Souveränität, durch die Spaltung in zwei Besatzungsgruppen und durch den Verlust der Polen einverleibten deutschen Ostgebiete hat es bereits bezahlt." Eine Gegenrechnung, welcher der ausgewiesene Hitler-Gegner und ehemalige KZ-Häftling sogleich die entscheidene Verwahrung gegen die damals aufgekommene Kollektivschuld-These folgen ließ. Schumacher: "Die Theorie der Kollektivschuld des deutschen Volkes muß entschieden abgelehnt werden. Vielmehr muß man von einer europäischen Schuld sprechen, denn während die deutschen Sozialdemokraten von den Nationalsozialisten verfolgt worden sind, haben die übrigen Nationen die Machtergreifung durch Hitler und die Kriegsvorbereitungen der Nazis zugelassen und geduldet." Worte, für deren Zeugnis nicht nur sein persönliches Schicksal stand, sondern auch die Wirklichkeit der dreißiger Jahre, die aber bei den Siegern nicht gern gehört wurden.

Einen Kurt Schumacher bekümmert das Wohl- oder Mißfallen der Besatzungsherren jedoch ebensowenig wie Adenauer. Beide hatten ihre einschlägigen Erfahrungen mit der Entfernung aus dem Amt als Oberbürgermeister von Köln bzw. dem auferlegtem Redeverbot in der französischen Zone, zeigten sich jedoch von solchen Machtdemonstrationen nicht sonderlich beeindruckt.

Von Adenauer wird überliefert, daß er es mit dem biblischen Auftrag hielt, aufzutreten und zu reden, "sei es gelegen oder ungelegen"; vor allem, wenn es um elementare Interessen seines Volkes ging. Diese sah er 1949 aufs engste mit der Lebensfähigkeit der deutschen Wirtschaft verknüpft und zugleich vom Konkurrenzdenken der Besatzer bedroht. Entsprechend hatte er am 23. März 1949 in Bern seinen Argwohn offen geäußert. Die vom britischen Foreign Office postwendend erfolgte "Zurechtweisung" hinderte ihn nicht daran, das von den drei westlichen Besatzungsmächten errichtete "Amt für militärische Sicherheit" am 28. Mai 1949 scharf anzugreifen und seine Tätigkeit "als nichts anderes als eine Ausspionierung der Konkurrenz schlimmster Art" zu bezeichnen. Damit nicht genug: er nannte es auch "eine der ersten Aufgaben der künftigen deutschen Regierung, gegen diese üble Industriespionage etwas zu unternehmen und der Fortsetzung der Demontierung Widerstand zu leisten."

Kurz zuvor hatte Adenauer die Westalliierten gewarnt, die Deutschen durch eine allzu kurzsichtige Besatzungspolitik in ihrem Selbstwertgefühl zu verletzen, da sie sonst "der Erhaltung ihrer Ehre den Vorzug vor einer gewünschten späteren Zusammenarbeit geben" könnten. Vorhaltungen und Warnungen, die vor 50 Jahren nicht als "extrem" oder "chauvinistisch" klassifiziert, sondern selbst von den Siegern als "normal patriotisch" quittiert und schließlich auch weitgehend beherzigt wurden.

 

Dr. Alfred Schickel ist Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI)


 
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