© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/97 u. 01/98  19. Dezember / 26. Dezember 1997

 
 
1998: Bundestagswahlen, Euro und die Krise des politischen Systems
Das Jahr der Konflikte
von Dieter Stein

Deutschland steuert im kommenden Jahr, gelähmt durch sich gegenseitig blockierende Interessengruppen und Parteien bewegungsunfähig in eine Situation, in der Entscheidungen, obwohl deren Notwendigkeit offenkundig sind, verhindert werden. Statt mit den Realitäten konfrontiert zu werden, starrt das deutsche Publikum noch überwiegend auf eine von den Medien illuminierte utopistische Bühne, auf der dilettantisch Scheinkontroversen dargeboten werden. Während hinter den Kulissen der Mörtel aus den Fassaden bröckelt und die Fundamente unterspült werden, verlustieren sich Komödianten aus Politik, Kultur und Wirtschaft mit Schattenboxen vor einer Menge, der erst nach dem Fallen des Vorhanges schwanen wird, was wohl tatsächlich gespielt wird.

Man versucht die Besucher des Bonner Schauspiels mit Bundeswehrskandälchen und einem Staatsbürgerschafts- Pas-de-deux bei Laune zu halten, da kreuzen Kultusminister mit Eltern schulpflichtiger Kinder vor Richtern die Klingen – wegen einer Rechtschreibreform, die Milliarden verschlingt ohne den Bildungsstandort Deutschland "attraktiver" und junge Leute "fitter" für das nächste Jahrtausend zu machen. Da lügen die Sozialpolitiker mit einer Mehrwertsteuererhöhung rentenpolitisch das Blaue vom Himmel herunter und retten sich so bis zum nächsten Milliardenloch in der Rentenkasse.

Bei diesem Lustspiel wird jedoch ein großer Bogen um die existentiellen Fragen gemacht, über die ein rabiater Streit zwischen den politischen Lager ausbrechen müßte:

Wie kommt Deutschland aus der demographischen Sackgasse? Das deutsche Volk vergreist – 1871 kamen auf 100 Deutsche unter 20 Jahren lediglich zehn über 60. Heute kommen auf zehn unter 20 Jahren zehn über 60. Wie soll ein gigantisches Sozialsystem finanziert werden, wenn immer weniger Familien gegründet und Kinder in die Welt gesetzt werden?

Wie kommt Deutschland vom Millionenheer an Arbeitslosen herunter, wenn ein bankrotter Staat die Leistungskraft des Volkes blockiert? Der Schuldendienst steht heute bereits an zweiter Stelle des Bundeshaushaltes.

Wie sichert Deutschland seine Geldwertstabilität und die Sparguthaben, wenn der Euro kommt? Ein Euro, der eingeführt wird, weil sich Kohl 1990 von Frankreich hat erpressen lassen!

Soll der Charakter der Bundesrepublik Deutschland ein nationaler oder ein multikultureller sein? Wie ist ein gesellschaftlicher Konsens und eine Rechtstradition zu erhalten, wenn sich die Bevölkerung innerhalb der nächsten dreißig Jahre ethnisch durch Zuwanderung dramatisch verändert?

Arnulf Baring, einst Berater Willy Brandts, jetzt Befürworter einer starken politischen rechten Mitte, sieht angesichts der Lage ein "Scheitern des politischen Systems wegen Entscheidungslosigkeit". Seine Analyse ist ernüchternd. Auf einer Veranstaltung des Bundes Freier Bürger in Hamburg erklärte der Historiker, Kurskorrekturen seien angesichts der politischen Lethargie in Bonn auch jetzt noch nicht zu erwarten. "Erst wenn es handfest in die Bude hagelt, werden die Deutschen merken, so geht’s nicht weiter". Nach Barings Auffassung müsse sich die Krise dramatisch zuspitzen, dann werde es "eruptiv zu einer anderen Art von Republik kommen". Auf die polischen Herausforderungen wird nicht mit zünftigem demokratischem Streit reagiert, sondern mit penetrantem Aussitzen, Durchwursteln, politisch-korrekten Sprachverboten und einer latenten Diskussionsverhinderung.

Parteipolitisch rumort es im Lande, schließlich sind 1998 mehrere Wahlen, neben einigen Landtagen wird der Bundestag gewählt. Wie an dem Austritt des hessischen FDP-Politikers Kappel ersichtlich, werden die bürgerlichen Parteien im kommenden Jahr weiter ausfransen und Anhänger verlieren. Ob dies das bestehende Parteiensystem schon 1998 zum Implodieren bringt, ist fraglich. Doch manchmal macht die Geschichte Sprünge, wie wir schon erfahren konnten. Eine treibende Kraft wird dabei notwendigerweise die Jugend spielen müssen, deren Zukunft von der alten politischen Klasse verfrühstückt wird. Die Studentenstreiks können somit nur ein sanfter Auftakt zu härteren Konflikten sein


 
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