© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/97  05. Dezember 1997

 
 
Die Verbrechen der kommunistischen Regimes als Tabuthema: Kontroverse um "Schwarzbuch des Kommunismus von Stephane Courtois
Die Endlösungen und eine Rückkehr zu Ernst Nolte
von Karl Heinz Weißmann

Niemand kann sagen, daß er nichts davon gewußt hat oder hätte wissen können. Die Umstände mochten im einzelnen ungeklärt sein, die Zahlen ungenau oder unwahrscheinlich –Solschenizyn sprach schon vor Jahren von sechzig Millionen Toten –, aber kein Bürger eines westlichen Landes hatte tatsächlich die Möglichkeit, die Verbrechen des Kommunismus zu ignorieren. Seit der Oktober-Revolution gab es Berichte der Emigranten, sickerten grauenhafte Details durch, existierten Zeugnisse der Dissidenz und praktische Anschauung in den Gebieten, die durch glückliche Umstände ihre roten Schlächter wieder losgeworden waren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen vereinzelt Archivbestände ans Licht, über die künstlich erzeugte Hungersnot in der Ukraine, über die Opfer des großen Terrors in den dreißiger Jahren, über die Maßnahmen, die Stalin noch kurz vor seinem Tod gegen die in seinem Machtbereich lebenden Juden ergreifen wollte.

Woher dann die Irritation, die das in Frankreich gerade erschienene "Schwarzbuch des Kommunismus" auslöst? Die Antwort ist einfach: Man hat im Westen gewußt und geschwiegen, man hat gewußt und abgewiegelt oder man hat nicht wissen wollen. Mit "man" sind selbstverständlich nicht die wenigen verbliebenen "Kalten Krieger" gemeint, nicht einmal die Ignoranten, sondern die Böswilligen, die Funktionäre der kommunistischen Parteien samt Anhang, und die pinkies, die rosarote Intelligenz, die in den vergangenen achtzig Jahren immer wieder Verständnis aufbrachte für die besonderen Bedingungen in Rußland, China, Kambodscha, Vietnam, Kuba und den zahllosen Staaten der Dritten Welt, in denen Kommunisten töteten oder töten ließen, um einer "im Kern" unzerstörbar humanistischen, dem Erbe der Aufklärung verpflichteten Vorstellung willen.

Selbst unter den Mitarbeitern des von Stéphane Courtois herausgegebenen "Livre noir du communisme" gab es noch eine heftige und kontroverse Diskussion nach Erscheinen des Bandes. Die scharfen Worte, die Courtois einleitend für die Verblendung vieler Sympathisanten des Kommunismus – er gehörte lange Zeit selbst dazu – gefunden hat, und das Eingeständnis, daß die Ablehnung des Totalitarismusbegriffs und der "Vergleichbarkeit" von Nationalsozialismus und Stalinismus, KZ-System und Gulag entscheidende Einsichten verstellte und dazu beitrug, daß es bis heute keine "legitime und normale Bewertung der Verbrechen des Kommunismus" gibt, haben für Unmut gesorgt. Hier spielen innerfranzösische Auseinandersetzungen mit, einerseits bestimmt von der Bedeutung der KP für den Mythos Résistance, bestimmt von ihrer Stärke im Frankreich der Vierten und Fünften Republik und dem außerordentlichen Einfluß des Marxismus auf die Köpfe in Wissenschaft, Literatur und Kunst, andererseits bestimmt vom Überdruß am Moralisieren der auch nicht mehr so "Neuen Philosophen" und dem immer schmerzlicher bewußt werdenden Ende der Nachkriegszeit samt übersichtlicher ideologischer Konstellation. Zu dieser Konstellation gehörte auch, und das betraf natürlich nicht nur Frankreich, der "Antifaschismus", der alle anständigen Menschen in einem dauernden Kampf gegen das absolute Böse vereinigt sah, dem man das Etikett "Faschismus" angeheftet hat, ohne sich deshalb auf historische Gestalten wie Mussolini und Hitler beschränken zu müssen. "Antifaschismus" mochte als Impuls in den zwanziger und dreißiger Jahren verständlich sein, geriet aber zur Narrheit, als er gänzlich politisiert und von der Sowjetunion in Dienst genommen wurde. Der "Antifaschismus" war Moskau so wichtig, weil er die fallweise Einheit der zerstrittenen Linken und eine Geschichtsphilosophie ermöglichte, mit der nicht nur die Idee des Fortschritts gerettet war. Es ließ sich auch an einer Dialektik festhalten, derzufolge der Weg in die Freiheit Umwege erlaubt, Opfer fordert und historische Irrtümer rechtfertigt, und manchmal mehr noch: daß man eine gewisse Bewunderung denen nicht versagen durfte, die sich die Hände schmutzig machten bei der Beseitigung des alten, des falschen Lebens.

In Deutschland hat der "Antifaschismus" seinen Siegeszug unter besonderen Bedingungen angetreten, antreten müssen. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Reiches fand er nur wenig Anklang, östlich der Elbe war er von einer ungeliebten und unglaubwürdigen Obrigkeit verordnet, westlich der innerdeutschen Grenze wurde er insoweit akzeptiert, als er in gleichsam abstrakter Form – als Ergänzung zum Antikommunismus auftrat, regelmäßig verbunden mit dem Hinweis, daß es wichtiger sei, den lebendigen als den toten Feind zu bekämpfen. Selbstverständlich gab es für die verbreitete Akzeptanz dieser Einstellung biographische Gründe, aber auch politische Deckung. Die zwischen 1880 und 1930 Geborenen waren zu sehr verstrickt in das Durcheinander von Schuld und Verhängnis der Vorkriegs-, der Kriegs- und der Nachkriegszeit, um zu ganz klaren Urteilen zu kommen, das "kommunikative Beschweigen" (Hermann Lübbe) der Vergangenheit stärkte außerdem die Konzentration aller Kraft auf den Wiederaufbau, und die Sieger waren nach anfänglichem Enthusiasmus für Entnazifizierung, Spruchkammer und Reeducation immer weniger an deutscher Gewissenserforschung und – nach dem Zerfall ihrer Koalition immer mehr an deutschen Verbündeten interessiert, die jede Seite im Gefolge der Teilung Deutschlands gegen den ehemaligen Verbündeten in Stellung bringen wollte.

Selbstverständlich gab es unter den Bedingungen eines freien Gesellschaftssystems auch für diese Entwicklung eine gegenläufige Tendenz, die sich in Westdeutschland zwar nicht durchsetzen, aber bemerkbar machen konnte. Thomas Manns unglückliches Wort vom "Antikommunismus" als "größter Torheit des Jahrhunderts" gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die einflußreiche linksbürgerliche Literatur, die, wenn auch im Wesen unpolitisch, eine deutlich "antifaschistische" Tendenz verfolgte. Allerdings hat erst das atomare Patt, die Abschottung der Teilstaaten mit dem Mauerbau und die von den Supermächten gegen ihre Bündner durchgesetzte Détente die Voraussetzung dafür geschaffen, daß mit einem besonders heftigen Generationenkonflikt Anfang der sechziger Jahre der "Antifaschismus" in der Bundesrepublik zu einer gesellschaftlichen Macht ersten Ranges werden konnte. Die Revolte von ’68 war aber nicht nur der entschlossene Versuch der Jungen, sich postum der Anti-Hitler-Koalition anzuschließen, die demonstrierenden Studenten identifizierten sich mit den verfolgten Juden und die Polizei mit Gestapo und SS, und man wußte sogar, wo ein neues "Auschwitz" vorbereitet wurde: in Vietnam.

Das alles hat es auch in Frankreich gegeben und auch in den Vereinigten Staaten, aber die besondere deutsche Situation führte dazu, daß mit dieser Art von Antifaschismus ein linker Nationalismus möglich gewesen wäre, der von manchen Zeitgenossen durchaus als logische Konsequenz der Entwicklung betrachtet wurde. Wir wissen, daß es dazu nicht gekommen ist; zuletzt war das Bewußtsein übermächtig, im "Land der Mörder" zu leben und die Perspektive allzu verführerisch, die "willigen Vollstrecker" aus der älteren Generation moralisch auf den Knien zu sehen, Über das politisch-theologische Konzept, das dem zugrundelag, ist schon viel nachgedacht worden, hier soll nur das Ergebnis interessieren: die Anschauung, daß die Deutschen sich als Nation nur noch dann begreifen dürfen, wenn die Nation als eine Gemeinschaft der Schuldigen/Schamvollen verstanden wird, und daß dieses Merkmal genügt, um sie als Nation zu konstituieren und identifizierbar zu halten, weil ihre Schuld "einmalig" ist. Jeder Zweifel an der "Einmaligkeit" bedroht nicht nur die wiedererreichten Zivilisationsstandards, er bedroht förmlich die Nation in ihrer Existenz, weil sie sich auflösen müßte in eine Summe unverbundener Einzelner, an die keine Ansprüche mehr gerichtet werden könnten, oder weil sie dann – schlimmer noch – zu einer wie immer gearteten "Normalität" zurückfände und ihr Spezifikum verlöre. Man darf die Goldhagen-Debatte, die Diskussion um die "Neue Rechte", die Kontroversen in der Zeit der Wiedervereinigung heranziehen, um diese These zu illustrieren, aber nach wie vor ist das entscheidende Datum der "Historikerstreit" der Jahre 1986-88.

Es kann deshalb gar nicht überraschen, daß im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des "Schwarzbuchs" in Deutschland sofort ein Bezug zu den Thesen Ernst Noltes hergestellt wurde: seiner Behauptung, daß zwischen dem "Klassenmord" der Bolschewiki und dem "Rassenmord" der Nationalsozialisten ein "kausaler Nexus" bestand, wobei der "Klassenmord" eindeutig "ursprünglicher" war als der "Rassenmord" und die "Vergleichbarkeit" beider Genozide grundsätzlich gegeben ist. Allerdings ist frappierend, wie unbekümmert Courtois in einem Interview betont, daß Nolte "legitime Fragen" gestellt habe und eine "moralische Einzigartigkeit" der "Endlösung" schon deshalb nicht gegeben sei, weil die Kommunisten im Prinzip "die gleichen Schreckenstaten" vollbrachten (20 Millionen Tote in der Sowjetunion, 65 Millionen in China, eine Million in Vietnam, 2 Millionen in Nordkorea, ebensoviele in Kambodscha, eine Million in Osteuropa, 1,7 Millionen in Afrika, 1,5 Millionen in Afghanistan, 150.000 in Lateinamerika und etwa 10.000, die der Komintern zum Opfer fielen) wie die Nationalsozialisten. Den Hinweis auf die politische Instrumentalisierbarkeit – Le Pen hat sich das Material schon propagandistisch zu Nutze gemacht – weist er ebenso kühl zurück wie den Verdacht der geplanten "Aufrechnung" und die Insinuation, hier werde nur haltlos über Opferzahlen spekuliert.

Aufschlußreich ist nicht nur, wie wenig Courtois die üblichen Sprachregelungen interessieren, aufschlußreich ist auch, wie von deutscher Seite auf solche Vorstöße reagiert wird. So hat der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, ein Veteran im Kampf gegen die "Viererbande" (Elie Wiesel) von 1986 – Nolte, Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber, Michael Stürmer –, in einem Beitrag für die Zeit zwar seine alten Vorwürfe wiederholt, nahm dann aber eine gewisse Frontbegradigung vor, wenn er feststellte, daß Nolte mit der Untersuchung des Zusammenhangs von bolschewistischer Herausforderung und nationalsozialistischer Antwort eine "Jahrhundertfrage" gestellt habe und deren Tabuierung nach dem Sieg der Habermas-Fraktion im Historikerstreit fatale Wirkungen zeitigte, jedenfalls dazu führte, daß die deutsche Zeitgeschichtsforschung im Blick auf den genannten Sachverhalt hinter anderen herhinke. Dieser Hinweis muß vor allem auf die französische Historiographie bezogen werden, die schon seit den achtziger Jahren Ansätze für eine "vergleichende Holocaust-Forschung" entwickelt hat. Im Vorfeld der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution löste die Arbeit Reynald Sechers über das Wüten des jakobinischen Terrors in der Vendée, dem mehr als zweihunderttausend Menschen zum Opfer fielen, eine heftige Kontroverse aus. Trotz der Beschwichtigungsversuche der konventionellen, noch sehr stark marxistisch bestimmten, Revolutionsgeschichtsschreibung hatte schließlich die These Sechers Bestand, daß sich zwischen 1793 und 1795 in den westlichen Departements ein "innerfranzösischer Genozid" ereignet habe, der in bezug auf die ideologische Rechtfertigung (Ausrottung eines "Verrätervolks") und die Methoden (auf den Einsatz von giftigen Gasen wurde nur aus Gründen der Praktikabilität verzichtet) keinen qualitativen Unterschied zu den Massenmorden des 20. Jahrhunderts aufwies. In denselben Zusammenhang darf man auch das Buch von Alfred Grosser "Le crime et la mémoire" (dt. "Die Ermordung der Menschheit", Hanser) einordnen, das dem Vorwurf der Verharmlosung der "Endlösung" durch Vergleich mit anderen Völkermorden wohl bloß entging wegen des biographischen Hintergrunds von Grosser und der sehr zurückhaltenden Schlußfolgerungen, die der Verfasser aus seinem Material zog. Schließlich ist zu nennen François Furets großes Buch "Le passé d’une illusion" (dt. "Das Ende einer Illusion", Piper), eine Generalabrechnung mit dem Kommunismus, in dessen Reihen Furet bis zur Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 gestanden hatte. Furet rehabilitierte hier nicht nur den Begriff des Totalitarismus, er formulierte darüber hinaus Thesen, die jetzt von Courtois aufgenommen worden sind. Auch dabei spielte die Auseinandersetzung mit Nolte eine wichtige Rolle, dem Furet zwar nicht in allem folgte, dessen These von der "Imitation" des Kommunismus durch Faschismus und Nationalsozialismus er aber für stichhaltig hielt.

Ursprünglich sollte Furet anstelle von Courtois das Vorwort für das "Schwarzbuch" schreiben. Daß es dazu nicht gekommen ist, hängt mit seinem überraschenden Tod im Juli dieses Jahres zusammen. Wahrscheinlich wäre es Furet gelungen, noch deutlicher zu machen, welchen Stellenwert man der Veröffentlichung geben muß. Das darf jedenfalls seinen letzten Äußerungen entnommen werden, in denen er den schon früher geäußerten Gedanken wieder aufnahm, daß das Zeitalter der Französischen Revolution endgültig beendet und ihre Utopien erledigt seien, und hinzufügte, daß von diesem Vorgang nicht nur die Linke, sondern auch die Rechte betroffen werde. Denn die spätestens mit dem Zusammenbruch des Ostblocks offenbar gewordene Substanzlosigkeit linker Konzepte habe doch nicht dazu geführt, daß die Gegenseite das entstandene Vakuum füllen konnte. Die Rechte habe die Sprache der Linken übernommen und verfüge über keine eigene mehr.

Furet wollte die Beschäftigung mit der modernen Tyrannis in einen größeren Zusammenhang stellen und die Dimension deutlich machen, in der ein Neuansatz erfolgen mußte. Dazu wäre es notwendig, die Geschichte der vergangenen zweihundert Jahre einer sorgfältigen kritischen Sichtung zu unterziehen und die Frage genauer zu klären, wie es dazu kommen konnte, daß der Glaube an den "neuen Menschen" und die "neue Gesellschaft" in die Barbarei führte, alle älteren religiösen Bestände abräumte und jede Hemmung beseitigte, die in den Traditionen verankert war. Ein solches Vorgehen wäre allerdings bloß dann mit Aussicht auf Erfolg möglich, wenn sich in der Verteilung der ideologischen Gewichte grundsätzliches ändern würde.

Ernst Jünger hat in bezug auf diesen Zusammenhang von einer "Welttendenz" mit fataler Wirkung gesprochen, diese "Welttendenz" habe "eine Linksrichtung, die seit Generationen wie ein Golfstrom die Sympathien bestimmt … Der weiße Schrecken ist nicht geringer als der rote und ebensowenig zu billigen. Aber er ist mit einem stärkeren Odium belastet, und das ist, objektiv gesprochen, ein Anzeichen dafür, daß er der Welttendenz und ihren Sympathien widerspricht." Die "Sympathien" zu verunsichern wäre eine erste, die "Welttendenz" zu überwinden, eine zweite, ungleich anspruchsvollere Aufgabe.


 
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