© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/97  14. November 1997

 
 
Pankraz, D. Wiggins und der Gorilla als würdiger Familienvater

Das vornehmste Menschenrecht, verkünden die Sonntagsredner, sei der Anspruch eines jeden einzelnen auf Respektierung einer spezifischen "Würde" in seiner Person, der "Menschenwürde". Aber was soll da genau respektiert werden, an wem wird die Würde festgemacht? Am Menschen? An der Person? Wo endet der Mensch, wo beginnt die Person? Sind beide miteinander identisch? Gibt es personale Würde auch jenseits des Menschen? Hat ein von Geburt an debiles Baby Würde, ein voll ausgewachsener und voll in der Verantwortung für seine Familie stehender Gorillamann aber nicht? Oder ist ein solcher Gorillamann nicht doch auch eine Person, eine "würdige" Person? Das sind, findet Pankraz, wahrhaftig keine unwichtigen Fragen.

In Deutschland sind sie weitgehend tabuisiert, ja, faktisch verboten. Redner, die sie öffentlich zu stellen wagen, werden von den Podien gezerrt, verprügelt, mit Ausweisung oder Gefängnis bedroht; man denke an die Vorgänge um den australischen Philosophen Peter Singer. In der angelsächsischen Welt dagegen ist längst eine ausgedehnte und hochinteressante Debatte zum Thema "Mensch und/ oder Person" im Gange. Namen wie Richard Swinburne, Derek Parfit, Bernard Williams, David Lewis oder David Wiggins stehen für Standpunkte, die sich scharf voneinander abheben und die den aktuellen inneruniversitären "Diskurs" mittlerweile fast schon beherrschen.

Die Person, sagt Williams, ist letztlich mit dem lebendigen Körper identisch. Keine Person kann in zwei verschiedenen Körpern wohnen, und ohne Kontinuität des lebenden Körpers gibt es keine Person. "Wirklich nicht?", fragt David Lewis maliziös dagegen. Verschwindet denn eine Person, wenn "ihrem" Körper ein Bein oder etwa die Hälfte ihrer Großhirnrinde entfernt wird? Nein, sie verschwindet nicht. Stattdessen ist es denkbar, daß sie künftig, bei entsprechenden Fortschritten der Medizin (nämlich wenn es möglich sein wird, ein Großhirn in mehrere Hemisphären zu teilen und diese dauerhaft in differenten Lebens-Elexieren anzusiedeln), einmal sogar in zwei oder mehr verschiedenen Körpern existieren wird – und sich trotzdem mit sich identisch weiß.

 

Für die Lewis’sche Sicht ist Person eine rein psychische kontinuierliche Identität. Doch was passiert dann mit ihr, wenn sie Gedächtnisverlust erleidet, ihr ganzes Erinnerungs- und Erfahrungsarsenal im Nichts verschwindet? Sind die Alzheimer-Patienten keine Personen mehr, haben sie keinen Anspruch auf Würde? Und was ist mit den Schizophrenen, die sich in Wahngebilden, in Identitätswechseln verlieren, an Bewußtseinsspaltungen leiden, was mit jenen Babys, die faktisch ohne Großhirn zur Welt kommen und dennoch in einem Körper leben? Alles keine Personen?

Die Versuche von Derek Parfit, die psychische Kontinuität radikal von stabilem Identitätsbewußtsein abzukoppeln, können nicht überzeugen. Ohne Identität gibt es keine Kontinuität, keine Personalität, keine Verantwortung, keine sittliche Beziehung zur Umwelt, kurzum: keine Würde. Und wenn David Wiggins den Vorschlag macht, die Würde der in Demenz oder Wahn Versunkenen aus der Erinnerung an ihre einstige oder habituelle "natürliche Normalität" zu konstruieren, so mag das als Aufforderung zum barmherzigen Umgang mit ihnen willkommen sein, zur Bestimmung der Würde selbst, also dessen, was eine "würdige Person" sein soll und was sie von uns verlangen kann, leistet es nichts.

Das sieht auch Richard Swinburne so, mit dem Pankraz am ehesten übereinstimmt. Er argumentiert im Stile der praktischen Vernunftlehre von Kant, daß wir Identität einfach postulieren müssen, um Personalität und würdigen Umgang miteinander überhaupt möglich zu machen. Die Person, sagt er, ist schlicht eine sittliche Notwendigkeit, eine intelligible, immaterielle "Entität".

Freilich, ob diese Entität, diese "Seele", dem Menschen vorbehalten bleibt oder ob sie doch auch dem so überaus würdig wirkenden Gorillamann und anderen lebenden Wesen zukommt – darüber äußert sich Swinburne nur diffus oder dilatorisch. Das mag gut gehen und den sittlichen Standards entsprechen, solange wir uns beides "leisten" können: sowohl die teure, weil würdige Fürsorge für die großhirnlosen Babys als auch die teuren, weil würdigen Feldzüge zum Schutze der Gorillas. Was aber, wenn das eines Tages nicht mehr der Fall sein sollte? Das ist ja, wie jedermann weiß, keine unrealistische Perspektive, nicht einmal eine unwahrscheinliche.

 

Würde dann, wenn es um Leben oder Tod geht, die Würde der Person stets dem großhirnlosen menschlichen Baby zugesprochen – oder in gewissen Situationen dem Gorillamann und seiner Familie? Peter Singer hat sich vorbehaltlos auf die Seite des Gorillamanns gestellt, mit Argumenten, die in Deutschland kriminalisiert sind und nicht geäußert werden dürfen. Bernard Williams plädiert auf Grund seiner Theorie der Identität als körperlicher Kontinuität zugunsten des Babys und zuungunsten des Gorillamanns. Aber das tut er sehr zögerlich.

Denn viele neue Fragen stellen sich hier an. Ist ein lebender Körper ohne Großhirnrinde ein menschlicher Körper? Kann dort noch unbehelligt die Entität wohnen, die geschützt werden muß? Wo macht sich die von David Wiggins so eindrucksvoll beschworene "Erinnerung" fest? Am rührenden Zappeln des willenlosen Babykörpers – oder an den klugen Augen des Gorillamanns, in denen sich ja durchaus Gemeinsamkeit mit uns Menschen spiegelt, gemeinsame uralte Heimat, gemeinsame "Natur"?

Wie soll man hier entscheiden! Gottlob wird im menschlichen Leben nicht alles der Auskunft von Debattierern und Theoretikern anheimgestellt, in den meisten Fällen entscheidet das Gemeinwesen gewissermaßen aus dem Bauch heraus und auf eigene Rechnung. Die Verantwortung bleibt bei den Politikern. Aber debattieren lassen sollte man die Debattierer schon, um ein Mindestmaß an Menschenwürde zu demonstrieren.


 
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