© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/97  07. November 1997

 
 
Neue Meiniungsumfrage: 88 Prozent der Bevölkerung wollen eine zweisprachige Schulerziehung
Klarer Stimmungswandel im Elsaß
von Gabriel Andres

Im Auftrag der Vereinigung "Fier unsri Sprooch" (Haut Comité de référence pour la défense des langues alemanique et francique) hat das Institut ISERCO vor einiger Zeit eine Meinungsumfrage über das Problem der Zweisprachigkeit im Unterricht des Elsaß durchgeführt. Befragt wurden 802 Familien in 30 Gemeinden des Kantons Pfirt im Sundgau sowie in zwei angrenzenden Gemeinden. Ausgewählt wurden junge Familien mit Kindern im Alter von unter sechs bzw. zwischen sechs und zwölf Jahren.

Das Ergebnis der Befragung fiel ebenso eindeutig wie erfreulich aus: Die Eltern verlangen eine Intensivierung des zweisprachigen Unterrichts. 75 Prozent sind der Meinung, daß das Engagement der regionalen Schulverwaltung für die Erweiterung der bilingualen Schulerziehung unzureichend ist. Und 48 Prozent teilen die Ansicht, daß der paritätische Sprachenunterricht – das heißt zu gleichen Teilen Elsässisch-Französisch im Kindergarten und Deutsch-Französisch in der Grundschule – eine sehr interessante Variante des Sprachunterrichts darstelle. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, daß knapp die Hälfte der im Kanton Pfirt befragten Familien einen derartigen Unterricht für ihre Kinder ins Auge fassen würden, sofern es der Schulbehörde einfallen sollte, dieses Modell in die Praxis umzusetzen.

Die Zustimmung der Bevölkerung zu einer bilingualen schulischen Erziehung der nachwachsenden Generation schon vom Kindergarten an, ist mit 88 Prozent der Haushalte sehr hoch. Sogar 80 Prozent der frankophonen Familien geben dem zweisprachigen Unterrichtskonzept den Vorzug. Diese Meinungsäußerungen werden von der Gewißheit der Eltern getragen, daß die Bilingualität für ihre Kinder und deren Fortkommen einen Trumpf darstellt. Diese Einstellung hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt – und ganz besonders in den letzten Jahren – immer weiter verstärkt, nachdem von 1945 bis 1972 Deutsch aus den Lehrplänen des Elsasses zwangsweise entfernt war und die angestammte Sprache zusammen mit dem alemannischen bzw. fränkischen Dialekt im gesamten öffentlichen Leben so weit wie möglich verbannt wurde. Der Dialekt wurde, wie es in der gut gemachten "Kurzen Sprachgeschichte" des Straßburger Regionalamtes für die Zweisprachigkeit (Office Régional du Bilingualisme) heißt, "zum schulischen Hindernis degradiert und als Zeichen für Rückständigkeit und Bildungsmangel angesehen". Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand ein tiefer "sprachlicher Minderwertigkeitskomplex, der dadurch zum Ausdruck kommt, daß das Sprechen des elsässischen Dialektes an sich mit einer Negativkonnotation belegt wird. Die Loyalität gegenüber Frankreich geht einher mit dem Verzicht auf die überlieferte Muttersprache."

Im Sundgau sprechen 78 Prozent der von ISERCO befragten Familien den angestammten alemannischen Dialekt. Der Übergang zur deutschen Hochsprache erfolge ohne besondere Mühe, betonen sie. 63 Prozent der Berufstätigen arbeiten in der benachbarten, ebenfalls alemannischen Schweiz.

Was durch diese Umfrage im Sundgau erwiesen ist, dürfte in etwa für das gesamte Elsaß, die frankophonen Gebiete ausgenommen, gültig sein, sei es nun im alemannischen oder im fränkischen Sprachraum. Überall hat auch der trotz aller ermutigenden Tendenzen alarmierende Prozentsatz Gültigkeit, daß von den unter 25jährigen Elsässern nur noch knapp ein Drittel ihren Dialekt sprechen können.

Abschließend noch einige Bemerkungen zu der aufschlußreichen Umfrage aus autonomistischer Sicht: Man sollte neben der werbewirksamen Betonung der beruflichen Vorteile, die ein zweisprachiger paritätischer Unterricht bieten kann, nie vergessen, daß es in erster Linie darum geht, dem Elsaß seine Muttersprache zu erhalten. Dem Regionalamt für die Zweisprachigkeit ist Respekt zu zollen, wenn es in einem Informationsblatt darauf hinweist, daß "das Herz ebenso wie der Verstand" dafür sprächen, den "schrittweisen Aufbau einer neuen, wirksamen und durchgängigen Zweisprachigkeit" umzusetzen, "die die dem Elsaß eigenen deutsch-/dialektsprachigen Wurzeln integriert und sich nicht durch das Scheinargument der Gegenseitigkeit verunsichern läßt (es gibt keine sprachliche ‘Symmetrie’ zwischen dem Elsaß und seinen Nachbarn)".

Es ist von seiten des französischen Staates eine Vergewaltigung des Geistes, der Ausdruck einer ungeheuren Verachtung und eines kolonialistischen Imperialismus gewesen, diesen bilingualen Unterricht nicht schon gleich nach dem Kriege eingeführt zu haben. Leider haben auch die elsässischen Gewählten in diesem Punkt über lange Zeit hinweg völlig versagt. Um so erfreulicher ist es daher, daß seit nunmehr gut zehn Jahren immer mehr von ihnen aus dieser kulturellen Lethargie erwachen. Vom 11. September bis 9. Oktober dieses Jahres haben zahlreiche Ortschaften in Katalonien unter Beteiligung der vielen heimatbewußten Vereinigungen dieser Region je einen Festtag zur Ehrung und Förderung der katalanischen Sprache organisiert. Am 13. September war mit Perpinya (französisch: Perpignan) auch die katalanische Hauptstadt diesseits der Pyrenäen Gastgeber eines solchen Sprachfestes. – Warum sollte eine derartige Feier nicht auch im Elsaß möglich sein?

An Vereinigungen, die sich für die Pflege der Muttersprache und der elsässischen Kultur insgesamt einsetzen, fehlt es wahrhaftig nicht. Das Haut Comité "Fer unsri Sprooch" wäre der ideale Katalysator, um das Sprachfest in Gang zu bringen und aus diesem Anlaß die leider mitunter gegeneinander arbeitenden kulturellen Vereinigungen des Elsaß um sich zu sammeln.


 
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