© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/97  31. Oktober 1997

 
 
Vergangenheitsbewältigung als Staatsräson: Günter Maschke über die Auflösung der deutschen Nation und die íntellektuelle Lage der politischen Rechte
"Die Genußsucht wird mit Zerknirschung bezahlt"
von Dieter Stein /Hans B. von Sothen

Herr Maschke, Sie haben vor fast sechs Jahren in einem Interview mit dieser Zeitung gesagt, in Deutschland wäre der Raum geistiger Freiheit nahezu verdampft. Die Lage wird sich wohl kaum gebessert haben?

MASCHKE: Nein, die Lage hat sich keineswegs verbessert, weil die Vergangenheitsbewältigung sich sogar noch verschärft hat. Ihre eigentliche Krux ist nicht die ständige hysterische Abgrenzung von Hitler und angeblichen faschistischen oder neofaschistischen Gefahren, sondern daß sie ausgeweitet wird auf die fernsten Zonen und Zeiten. Wenn ich heute über – sagen wir mal – den Minnegesang etwas schreibe, so muß ich dabei die Degradierung der Frau durch ein autoritäres Patriarchat beklagen und darauf hinweisen, daß schon hier die Schrecken der dunkelsten Jahre zu ahnen sind oder ähnliches und wenn ich die Bürgerkriege zwischen den antiken griechischen Staaten behandle, so komme ich um ein spruchkammerhaftes Moralisieren nicht herum. Das ist etwas karikierend, aber die Tendenz geht in diese Richtung. Ich darf praktisch keine Epoche mehr aus sich selbst heraus sehen, aus dem Imperativ Rankes, daß alle Epochen gleich stehen zu Gott, – ich muß über alles die Sauce dieser diffusen, suggestiven, erpresserischen Moral gießen. Das Problem der Vergangenheitsbewältigung ist weniger, daß ich bei gewissen Namen, Daten, Tatsachen oder Tatsachenbehauptungen den Kopf einziehen muß und die gewünschte Meinung zu äußern habe,– sondern daß ich tendenziell alle geschichtlichen Ereignisse unter dem Aspekt vermeintlicher Emanzipation, von Schuld und Vorläuferei betrachten muß. Die Vergangenheitsbewältigung durchdringt und verpestet die Geistes- und Geschichtswissenschaften und zerstört die Fähigkeit zu geschichtlichem, psychologischem Denken und so weiter. Dieses Nichtwahrnehmenkönnen der jeweils eigenen gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen, diese damit in Gang gesetzte Verdummung ist vielleicht schwerwiegender als eine punktuelle Political correctness gegenüber dem Nationalsozialismus.

Wie erklären Sie sich, daß sich die Vergangenheitsbewältigung derart verselbständigt hat, daß die Kampagnen wie Fieberanfälle uns in immer kürzeren Intervallen schütteln?

MASCHKE: Ich glaube, es gibt wenig Dinge, die ein derart gutes Karriere- und Machtmittel sind wie die Vergangenheitsbewältigung, weil ich durch sie natürlich überall irgendwelche Spuren des Unheils oder Vorahnungen oder Anfänge sehen und unbegrenzt alle und alles verdächtigen kann. Wenn Sie an der Frauenemanzipation die leisesten Zweifel äußern, wird Ihnen in jedem Parteivorstand die Rübe abgemacht. Die bis in die fernsten Regionen gehende Vergangenheitsbewältigung kann überall eingesetzt werden, um den Gegner als reaktionär, gefährliche Tendenzen hegend und so weiter, zu diffamieren. Die normale Pluralität eines Gemeinwesens wird sofort aggressiv in Frage gestellt, und das ist natürlich ein großartiges Mittel im Machtkampf. Die Vergangenheitsbewältigung spielt zwar insgesamt eine bedeutende Rolle bei der Selbstverohnmachtung Deutschlands, doch im innerpolitischen und -parteilichen Machtkampf bietet sie unzählige Instrumente, um dem Gegner eins überzuziehen. Der große Machiavellismus wird getötet, der kleine so richtig in Schwung gebracht.

Ist das der Grund, warum diese Art der Machtausübung jetzt auch exportiert wird, etwa auch nach Frankreich oder in die Schweiz?

MASCHKE: Ich glaube, daß es ein allgemeines Dekadenzphänomen einer Gesellschaft ist, die sich nicht mehr selbst will, dieweil sie unfähig ist, zu kämpfen, ihre Genußsucht mit Zerknirschung bezahlen muß, – das ist endlos… Das Hauptproblem scheint zu sein, daß diese Phänomene, immer Zeichen für Dekadenz sind ,– und da sind wir natürlich auch wieder führend. In Frankreich gab es einmal eine gesunde Schizophrenie, man sprach von Menschenrechten, orientierte sich aber an der Staatsräson und so weiter. Jetzt hat Frankreich nicht mehr die Kraft, an dieser "Schizophrenie" festzuhalten, man hat jetzt diese neue Machtquelle entdeckt und da jeder ältere Politiker irgendwann einmal gelebt hat und damals irgendetwas passiert ist, wird man immer etwas finden… Im Falle der Schweiz ist es gelenkt, weil es darum geht, den Finanzplatz Schweiz zu schwächen. Das ist ein ganz klares Motiv.

Wie erklären Sie sich, daß es nach der Wiedervereinigung nicht zu einem Erlahmen der Vergangenheitsbewältigung gekommen ist?

MASCHKE: Je größer Deutschland ist, desto mehr wird die Vergangenheitsbewältigung zunehmen. Die Gefahr bestand, daß man sich zu einer anderen Politik entschließt, einer Politik der Wir-Findung, einer Machtpolitik… diese Gefahr bestand ja, wenn auch eher in den Augen des Auslands, dessen Ängste bei uns kniefälligst zur politischen Leitlinie erklärt wurden. Man gestattete sich dann die Wiedervereinigung als Einpassung in Europa, sie wurde zum hinzunehmenden Nebenprodukt der Vereinigung Europas erklärt. Letztlich beruht die Vergangenheitsbewältigung darauf, daß Deutschland nie wieder eine starke, eigenständige Macht sein darf, das ist ja der Konsens. Das ist das, was ich einmal die Verschwörung der Flakhelfer genannt habe. In dem Moment, wo auch nur entferntest die Gefahr droht, daß sich hier etwas tut, muß die Vergangenheitsbewältigung intensiviert werden. Das gelang vor sieben Jahren aber auch nur deshalb, weil die Ideologie der DDR, beseitigt man nur etwas den SED-Aufputz, so verschieden von der der BRD nicht war…

Wer ist Träger dieses antinationalen Konsenses?

MASCHKE: Der Träger ist die politische Klasse selbst, die ihre Macht daraus zieht, daß Deutschland keine Macht hat oder nur eine sehr begrenzte; dabei wird unter dem Beifall dieser Klasse sogar die letzte deutsche Machtressource aufgelöst, die D-Mark! Wenn dies geschehen ist, werden aber die anderen größeren Länder ihre nationalen Prärogative wahren, wir aber buchstäblich nichts mehr in Händen halten. Wenn wir dann kein Geld mehr haben, wenn sich unsere Krise verschärfen wird, wenn wir Europa nicht mehr finanzieren können, dann werden wir die größten Schweine in Europa sein und dann wird es wieder riesige Kampagnen wegen der Vergangenheit geben. Darauf sollten wir vorbereitet sein.

Klingt unlogisch: Die politische Klasse strebt doch normalerweise nach immer mehr Macht!

MASCHKE: Sie gewinnt, sie verstärkt und verbessert ihre Macht im Inneren durch den Verzicht nach außen. Der Verzicht nach außen verstärkt die totalitäre Formen annehmende Herrschaft im Inneren. Der Verzicht auf eine Verfolgung deutscher Interessen innerhalb Europas beinhaltet einen Machtgewinn, der sicher und kalkulierbar ist, zumal die intellektuellen Mittelschichten ähnlich denken und sich nach Entnationalisierung sehnen: sie wollen sich nicht einbringen in Europa, sie wollen sich dort auflösen. Wenn der Deutsche stolz sagen wird, daß er Europäer sei, wird ihm der Brite oder Franzose sagen, nein, du bist ein Deutscher, du Ferkel! Und da wird dieser Europäer Augen machen! Hinzu kommt ja noch, daß die offizielle Politik Kohls die eines neuen cauchemar des coalitions ist, also der Alptraum der Koalitionen, die der neuen Einkreisung. Bismarck hatte diesen Alptraum auch – und deswegen wird ja Herr Kohl seltsamerweise als Fortsetzer Bismarcks betrachtet…

…mit gegenteiligem Ergebnis…

MASCHKE: Ja, weil Kohl daraus nicht die Frage ableitet: Wie halten wir uns durch auf diesem gefährlichen Terrain, wie gewinnen wir die notwendige Stärke, sondern Kohl propagiert die deutsche Selbstfesselung, verspricht die deutsche Selbstfesselung. Im Grunde betreibt er Selbstmord aus Angst vorm Tode. Mir fällt dazu nur Clausewitz ein: "Zum Sterben ist immer noch Zeit". Das ist keine Politik, die von anderen geglaubt werden kann und das ist auch keine, die uns zu einem respektierten Mitglied in Europa macht. Im Gegenteil, wegen dieser Politik und dieser Mentalität, wegen dieser Reue- und Machtverzichtspolitik werden wir im Ausland verachtet und – sogar verschärft – beargwöhnt.

Wie erklären Sie sich, daß beim Thema Globalisierung in Deutschland die Linke zu den Hauptbefürwortern gehört, obwohl es klar sein dürfte, daß im Zuge dessen die Arbeitnehmer die Zeche zahlen werden – wie etwa beim Euro?

MASCHKE: Die Linke hofft auf die Auflösung des deutschen Volkes, sie ist darin noch radikaler als das Volk selbst – wenn dies auch nur ein gradueller Unterschied ist. Aber man muß sehen, daß die Globalisierung von Teilen der Linken auch scharf kritisiert wird, zum Beispiel in dem Buch von Elmar Altvater und einer Frau Birgit Mahnkopf "Grenzen der Globalisierung", erschienen im Verlag Westfälisches Dampfboot. Sieht man von den etwas biederen Lösungsvorschlägen ab, so sind wohl nirgends so eindringlich die katastrophalen ökonomischen, ökologischen und auch seelischen Folgen der Globalisierung, die entsetzliche Entwurzelung der Menschen, geschildert worden. Von der rechten Seite aus, von uns aus, gibt es leider keine auch nur annähernd so gute Analyse!

Woran liegt die desolate Lage der intellektuellen Rechten in Deutschland?

MASCHKE: Die Rechte ist ein rein mikroskopisches Phänomen, man muß sich sogar fragen, ob es überhaupt noch eine Rechte gibt. Ich glaube, Ernst Jünger hat einmal gesagt, daß es seit der Affäre Dreyfus keine Rechte mehr gibt. Auch die Rechte glaubt heute an die Volkssouveränität und sie ist sogar vulgär-rousseauistisch: das Volk ist gut. Bei ihr ist aber nicht der Kapitalismus schuld, sondern die Vergangenheitsbewältigungsindustrie oder die Alliierten oder das korrupte Fernsehen. Doch muß man wohl zugeben, daß das deutsche Volk seelisch und intellektuell völlig verkrüppelt und heruntergekommen ist; es ist um keinen Deut in einem besseren Zustand als die politische Klasse. Das wagt die Rechte auch nicht zu sagen. Viele Dinge, die als rechts gelten, sind es keineswegs – man denke nur an die seltsame Liebe vieler Rechter zu unserem Grundgesetz, an die Fata Morgana eines rechten Verfassungspatriotismus! Die Rechte bei uns spricht gerne über Metapolitik, landet aber nur in einer sehr kurzatmigen Bildungshuberei. Man begnügt sich mit einer Collage des rechten und konservativen Bildungsgutes der Vergangenheit – aber zu Discountpreisen. Drei Seiten hierüber, zwei Seiten darüber, da ist eine wirkliche rechte Häppchenkultur entstanden. Man sieht nicht den Sinn ambitiöser, strenger theoretischer Arbeit, man will rasch zu Potte kommen und wird es nicht, weil keine Ausmessung der Krise, der wahrhaft furchtbaren seelischen und spirituellen Situation des modernen Menschen geleistet wird, die alles Politische übersteigt.

In letzter Zeit ist es in Mode gekommen, zu behaupten, daß immer mehr Linke angeblich nach rechts gewandert wären, zum Beispiel – um mal Namen zu nennen – Klaus Rainer Röhl. Kann man davon überhaupt reden?

MASCHKE: Bei Röhl sehe ich, daß er antikommunistisch wurde, antitotalitär, aber als Rechten würde ich ihn nicht bezeichnen. Im Gegenteil, bei ihm gibt es eine Identifikation mit dem bestehenden System. Diese Art von Rechtsliberalen, von Nationalliberalen glaubt ja, daß diese Republik im Grunde gut wäre, daß man selbst diese Republik verteidigen müsse gegen links. In Wirklichkeit würden sie eher von diesen Linken depossediert als umgekehrt. Ein führender rechter Intellektueller, dessen Namen ich jetzt mal nicht nennen will, der regte sich einmal über Joschka Fischer auf, und ich sagte ihm, daß dies eher der Staat Joschka Fischers sei als der seine. Es gibt genügend Etablierte, die noch nicht begriffen haben, daß sie nur noch geduldet werden. Sie appellieren an eine bundesdeutsche Substanz, die sich längst in anderen Händen befindet.

Sie haben sich eine Weile stärker publizistisch auf der Rechten geäußert. Jetzt haben wir den Eindruck, Sie hätten sich mehr auf die wissenschaftliche Arbeit zurückgezogen. Hängt das auch mit Frusterlebnissen zusammen, daß sie nicht sehen, daß sich rechts etwas bewegt?

MASCHKE: Man soll das machen, von dem man glaubt, daß man es am besten kann, das ist abendfüllend genug. Und wie schon gesagt: Ich glaube, daß die Rechte es lernen muß, dickere Bretter zu bohren. Ich halte das nicht für Resignation. Ich kann nicht auf zwei oder drei Hochzeiten tanzen.

Sehen Sie in Deutschland oder seinen Nachbarländern jemanden, der dazu in der Lage wäre, diese theoretische Arbeit von rechts zu leisten?

MASCHKE: Ja, ich kenne einige Leute, auch Dreißigjährige, denen ich viel zutraue; bei uns, auch in Belgien, Frankreich, Spanien Italien. Das Problem wird von manchen gesehen, sicher… doch wenn man hier und anderswo gewisse Bücherschränke betrachtet, gewisse rechte Bücherschränke, so findet sich darin nur Publizistik, Zeitgeschichte und dergleichen. Natürlich, auch das muß man lesen. Aber ich kenne relativ bekannte Autoren der Rechten, die noch nie ein klassisches Werk der Politikwissenschaft im weitesten Sinne, sei es nun Tacitus, Tocqueville oder Carl Schmitt, gelesen haben, die aus zweiter oder gar dritter Hand leben. Das ist einfach die wahrhaft erschütternde Situation. Man muß sehen, daß mehr getan wird und auch, daß ein jahrzehntelang umkonditioniertes Volk mit einem völlig verschütteten Bewußtsein nicht durch ein paar witzige Formulierungen oder ein paar flotte Phrasen kuriert werden kann. Die Rechte muß intellektuell und wissenschaftlich ernsthafter werden, wozu es auch Ansätze gibt.

Sie muß also ihr Handwerk neu lernen?

MASCHKE: Ja, weil wir fast keine Ressourcen mehr haben. Wir sind intellektuell in einer viel schlechteren Lage als in den fünfziger Jahren, wo gewisse große Autoren noch meinungsbildend sein konnten, zum Beispiel Arnold Gehlen. Man muß sozusagen erst einmal wieder auf diesen Erkenntnis- und Bewußtseinsstand kommen, weil wir uns heute unter diesem Niveau befinden. Denken Sie einmal an den Parlamentarismus! Obgleich der Parlamentarismus der heutigen Republik viel katastrophaler, viel niveauloser ist als der von 1955, liegen fast alle Rechten heute, was die Einsicht in den Wert und Unwert des Parlamentarismus angeht, unter dem Niveau eines Winfried Martini von 1955 mit seinem Buch "Das Ende der Sicherheit". Wir sind in einer unendlich schwachen Position, und wenn der Feind zu wer weiß was dämonisiert, dann nur deshalb, weil er wirklich totalitär ist, weil er eine ganz und gar minoritäre Sache im Keim ersticken will. Die Political Correctness ist eben totalitär und vor allem ist sie analog zum faschistischen Autoritätssyndrom. Gemäß diesem ist der Feind winzig, lächerlich, dumm, historisch widerlegt, schmutzig, erbärmlich – und zugleich ungeheuer gefährlich! So werden wir behandelt. Daraus dürfen wir aber nicht schließen, daß wir wirklich gefährlich sind, sondern nur, daß der Feind die bescheidensten Ansätze mit gutem Instinkt sofort ersticken will. Zweitens aber dürfen wir daraus schließen, daß dieser Feind die höchsten Werte auf der F-Skala der Frankfurter Schule erreichen würde, nicht wir!

Die politische Entwicklung läuft momentan rasant in Richtung Auflösung der Nationalstaaten. Ist es überhaupt sinnvoll und realistisch, dagegen Widerstand zu leisten? Oder ist es konsequent, daß es zu größeren staatlichen Gebilden und Großräumen kommt?

MASCHKE: Der Trend dahin ist sicher zwangsläufig, nur ist das, was hier entstehen soll oder entstehen wird, kein Großraum: dieses Gebilde hat weder einen Hegemon, noch besteht Einigkeit über den Feind, noch besteht eine Homogenität der Mitglieder des Bundes, noch eine von allen bejahte politische Idee und deshalb auch keine gemeinsame Metaphysik, noch gibt es ein Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Was vermutlich herauskommt, ist eine Lateinamerikanisierung Europas, eine erleichterte Penetration Europas durch die Vereinigten Staaten. Im Grunde geht es heute ja nicht mehr um ein Interventionsverbot für raumfremde Mächte, sondern um ein Penetrationsverbot – ein zwar wünschenswerter, aber nur schwer vorstellbarer Prozeß, da man die Vereinigten Staaten der Europäischen Union aus den Ganglien reißen müßte. Im übrigen wird die Europäische Union vermutlich scheitern, weil nach der monetären Einheit die politischen Differenzen zwischen den einzelnen Staaten anwachsen werden, weil jeder im anderen den Schuldigen suchen und finden wird. Die Krisen werden sofort kontinentalisiert, ohne daß man einen klaren Adressaten fände, ohne daß man sich einig werden könnte über "den Schuldigen" und die ganze Relation von Schutz und Gehorsam, die ohne klare Autoritäten und Verantwortlichkeiten nicht funktionieren kann, wird in diesem Pseudo-Großraum zusammenbrechen. Die Völker werden sich entzweien und die hohe Zeit der – sogar nationalistisch verschärften – Demagogie wird das sich ver-uneinigende Europa heimsuchen. Der Prozeß wird sozial – im weitesten Sinne sozial – zerstörerisch sein, ohne daß ein politisches Konzept und ein wirklich eiserner Rahmen da ist. Man könnte der ganzen Sache zustimmen, wenn die Ausschließung der Vereinigten Staaten angestrebt würde und wenn eine gemeinsame politische Idee vorhanden wäre – ja, wenn…

Könnte es nicht sein, daß Europa auch für Deutschland von Interesse ist?

MASCHKE: Nur wenn man ein Interesse daran hat, sich in irgendeiner Form durchzusetzen. Dann muß man sagen: Wir wollen, zu einem gewissen Grade, ein deutsches Europa. Jetzt aber will man, auch bei uns, Deutschland einbinden, sprich fesseln; das deutsche Verhalten in Sachen Maastricht zeigt das ja. Übrigens: den Hegemon im neuen Europa zu spielen fiele auch dann schwer, wenn wir die Vergangenheitsbewältigung abschütteln könnten.

Aber ist nicht gerade die Vergangenheitsbewältigung auf eine eigenartige Weise zu einem ganz neuen nationalen Rückgrat der Deutschen geworden? Wurzelt die Aufforderung grüner Politiker für deutsche Beteiligung an militärischen Interventionen nicht darin? Dahinter steht doch die hybride Vorstellung, daß die Deutschen regelrecht historisch auserwählt sind, nicht wie vor 50 Jahren in nationalistischem Sinne, sondern im umgekehrten Sinne, allen zu sagen, was moralisch gut ist ...

MASCHKE: Das mag mitspielen, aber es ist mehr ein völliges Sich-Überlassen der US-amerikanischen Missionsideologie. Theodore Roosevelt sagte 1909, daß die Deutschen an ihrer Geographie ersticken würden und danach den US-Amerikanern ein nützliches Hilfsvolk sein könnten. Ist ein Engagement für die "Hilfsvolk"-Rolle nationalistisch? Jetzt lassen wir uns von der inzwischen wieder US-amerikanisch kontrollierten UNO instrumentalisieren ohne dieser irgendwelche Bedingungen zu stellen, sieht man einmal von den albernen Forderungen nach einem Sitz im Sicherheitsrat ab. Wir nehmen die offiziellen humanitaristischen Schwungradvorstellungen ernst, unsere Politiker glauben ihren eigenen Lügen und so geraten wir in die Gefahr, die dummen Jungs eines Bündnisses zu werden, das gegen uns errichtet wurde. Ein Deutscher saniert die Finanzen der UNO, die Deutschen wollen oder sollen militärische Aktionen der UNO durchführen – und fordern nicht einmal die Beseitigung der Feindstaatenklauseln!

Haben Sie nicht den Eindruck, daß man den Deutschen von 1997 am stärksten irritieren kann, wenn man ihm seine historische Täterrolle nimmt?

MASCHKE: Ja, natürlich, weil man ihm ja auch nur die gelassen hat. Das geht so weit, daß man fordert, daß Menschen anderer Nationen, die bei uns eingebürgert werden, an dieser Schuld teilhaben sollen. Also zum Beispiel Türken, die Deutsche werden. Die werden aber dann sagen: "Großvater damals nix dabei gewesen". Aber immerhin wird es von ihnen erwartet, immerhin mutet man ihnen diese Ersatzidentität zu. Hier ist die deutsche Politik extrem widersprüchlich: Wenn wir ewig bereuen sollen, wenn wir uns ewig unserer furchtbaren, unvergleichlichen Schuld bewußt bleiben sollen, muß man dann das deutsche Volk nicht intakt halten, muß man dann nicht verhindern, daß das deutsche Volk durch den Massenimport von Fremden biologisch und gesellschaftlich aufgelöst wird? Damit das deutsche Volk dem Schuldmessianismus weiterhin frönen kann, muß es in seiner ethnischen Substanz erhalten werden und darf nicht durch Multikulti und Masseneinwanderung geschädigt werden. Diese Behauptung ist nur für den absurd, der nicht bemerkt, in welchem Absurdistan er lebt.

Kommt die Forderung nach Normalisierung Deutschlands nicht schon stärker vom Ausland?

MASCHKE: Ja, aber das Ausland versteht unter Normalisierung, daß wir an seinen Schweinereien, daß wir an dieser imperialistischen westlichen Konstellation gleichberechtigt teilnehmen, vor allem finanziell. Das kann nicht unser Interesse sein. Zum Beispiel lag es nicht in unserem Interesse, das Techno-Massaker der Vereinigten Staaten am Irak mitzubezahlen, einem Land, das uns nie bedrohte; in einem noch viel geringeren Interesse läge es, in Zukunft an solchen Interventionen, die zunehmen werden, sich aktiv zu beteiligen. Eine Verschärfung unserer Dienstfertigkeit gegenüber den Siegermächten darf man nicht Normalisierung taufen oder gar zur nationalen Pflicht proklamieren.


 
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