© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/97  24. Oktober 1997

 
 
Eupen, Aurel uns St. Vith: Bonn ignoriert Zukunftssorgen von 120.000 Deutschbelgiern
Deutsche wollen weg von Wallonien
von Konrad Leschek

Kenntnisreiche Auguren geben dem belgischen Staat keine allzu lange Lebensdauer mehr. Was die Union von Flamen, Wallonen und der kleinen deutschen Volksgruppe überhaupt noch zusammenhält, das sind vor allem die vielen etablierten Politiker, die sich vor den unabsehbaren Folgen einer staatlichen Neukonstitution für die eigenen Pfründe fürchten, sowie – paradoxerweise – der Zankapfel Brüssel.

Während in den belgischen Medien die Frage nach den Konsequenzen eines möglichen Zerfalls ein "Dauerbrenner" ist, wird diese Problematik von der Bonner Politik ebenso wie von den großen Presseorganen weitgehend ignoriert. Und dies, obwohl – oder vielleicht gerade weil – von einer Auflösung Belgiens unweigerlich auch deutsche Landsleute betroffen wären.

In mehreren Stufen ist seit dem Jahr 1970 der belgische Zentralstaat, der seit 1831 die "Doktrin der drei Kreise" (Staat, Provinzen, Gemeinden) vertreten hatte, in einen stark ausgeprägten Bundesstaat umgebaut worden. Nach Zwischenschritten durch die Verfassungsänderungen von 1970, 1980 und 1988 nahm diese Entwicklung mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung am 18. Mai 1993 ein vorläufiges Ende.

Ebenso wie die vorausgegangenen Reformstufen primär eine Folge von Profilierungsversuchen der Flamen und Wallonen darstellten, spielte auch diesmal die deutsche Volksgruppe allenfalls eine untergeordnete Rolle. So verwundert es nicht, daß vor allem die beiden großen Staatsvölker Vorteile aus der Föderalisierung ziehen konnten, weniger die Deutschbelgier.

Ein eher symbolisches Ergebnis der Staatsreform bedeutete zunächst die generelle Aufwertung der (Sprach-) Gemeinschaften, die in Artikel 1 der neuen Verfassung aufgenommen wurden. Aufgrund der Tatsache, daß die belgischen Ostkantone nur den gemeinschaftlichen Status haben, kam dem für die Deutschsprachigen eine gewisse Bedeutung zu. Eine direkte Folge war, daß die Gemeinschaften im Rahmen ihrer Kompetenzen Verträge mit ausländischen Partnern abschließen können. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Nordrhein-Westfalen ("Euregio Maas-Rhein") und Rheinland-Pfalz wird künftig hiervon profitieren.

 

Neben der bis dato garantierten Vertretung der Deutschen im Brüsseler Senat konnte außerdem ein Sitz im Europaparlament erreicht werden. Das deutschsprachige Gebiet wurde zu einem Europawahlbezirk ausgebaut, und mit dem Präsidenten des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft (RDG) und Vertreters der Christlich-Sozialen Partei, Grosch, zog am 13. Juni 1994 erstmals ein Deutschbelgier in das Straßburger Parlament ein.

Auch auf einen materiellen Vorteil für die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) sei hingewiesen. Die Dotation des Föderalstaates an Eupen ging zur Hälfte eine Anbindung an die Entwicklung des Bruttosozialprodukts ein. Zusätzliche Einnahmen in Höhe von 100 Millionen belgischen Franken im ersten Jahr nach der Reform und 400 Millionen in den nachfolgenden Jahren bis 2002 stellen eine ansehnliche Erhöhung des gemeinschaftlichen Etats dar.

Dennoch zeigten sich nach einer Umfrage der belgischen Zeitung I&M unter den Fraktionsführern im Rat der DG alle dort vertretenen Parteien mehr oder weniger enttäuscht von den Ergebnissen der Reform. Kritisiert wird die Tatsache, daß der eigenen Gemeinschaft nicht die konstitutive Autonomie zuteil wurde, die man in den Ostkantonen gefordert bzw. erwartet hatte.

Da die neue Verfassung durch die Festschreibung der föderalen Ebenen etliche neue Vertretungen und diesen zugeordnete Administrationen entstehen ließ, wäre es ohne eine erhebliche Reduktion der Mandate zu einem wesentlich teureren und ineffizienteren Staatsapparat gekommen. Demzufolge wurde mit der Wahl vom 21. Mai 1995 die Zahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses in Brüssel von bislang 212 auf 150 Mitglieder verringert. Der Senat, das Bindeglied zwischen Parlament und den Gemeinschaften, wurde sogar von 183 auf 71 Mitglieder reduziert. Die hiermit einhergehende Wahlkreisvergrößerung führte dazu, daß die Parteien aus der DG heute auf nationaler Ebene über erheblich schlechtere Chancen verfügen, eigene Vertreter zu entsenden.

Außerdem setzte die Kritik insbesondere bei der aus dem Scheitern des Regionalisierungsgedankens resultierenden Anbindung der Deutschsprachigen Gemeinschaft an das Bundesland Wallonien respektive an die zu Wallonien gehörende Provinz Lüttich an. Neben dem grundlegenden Problem, als kulturell eigenständiger Landesteil dem frankophonen Wallonien als verfassungsmäßig integraler Bestandteil untergeordnet zu sein, hat dies zahlreiche alltägliche Konsequenzen. Durch die duale Struktur entsteht nun für die Deutschen in Belgien eine "Zwittersituation". Kompetenzen, die eigentlich in eine Hand gehören, werden zwischen Eupen und dem wallonischen Regierungssitz in Namur aufgeteilt. Während beispielsweise der Tourismus in die Verantwortlichkeit der DG fällt, ist der damit aufs engste verbundene Bereich des Landschafts- und Denkmalschutzes dem eigenen Entscheidungsbereich entzogen. Daneben gibt es finanzpolitische Ungereimtheiten, als deren Folge die wallonische Gemeinschaft Gelder für den Bildungssektor erhält, die auch der Steuerzahler der deutschen Gemeinschaft mitträgt, obwohl die Gemeinschaft für ihr Schulwesen selbst zuständig ist. Der Staatsrechtler Professor Robert Senelle von der Universität Gent kommentierte dies überaus deutlich mit den Worten: "Da könnten ja die Deutschsprachigen auch ihr Geld zum Fenster hinauswerfen."

 

Zudem konnte trotz des Anschlusses an die Wallonie keine automatische deutsche Vertretung im Wallonischen Regionalrat durchgesetzt werden. Eine andere Problematik wird besonders von der Grünen-Partei Écolo hervorgehoben, die das "ausgeprägte" Umweltbewußtsein der Deutschbelgier, das auf den Einfluß des bundesdeutschen Fernsehens zurückzuführen sei, dem ökologischen Desinteresse der Wallonen gegenüberstellt. Nicht zuletzt besteht unter den deutschbelgischen Parteien Übereinstimmung in der Forderung nach Steuerhoheit.

Trotz bestehender Kompetenzen ist die wallonische Regierung in Namur de facto nur sehr eingeschränkt in der Lage, die Aufsicht über die deutschen Gemeinden durchzuführen. Für die Öffentlichkeit wurde dies besonders deutlich im Zusammenhang mit dem "Fall Bütgenbach", als der Bütgenbacher Gemeinderat 1991 die Provinz Lüttich vor dem Staatsrat verklagte, den amtlichen Schriftverkehr in Deutsch durchzuführen. Dieser Präzedenzfall bestärkte Eupen darin, die Loslösung der Deutschsprachigen Gemeinschaft von Wallonien und der Provinz Lüttich zu fordern. Ziel ist die Erhebung der eigenen Gemeinschaft zu einem Bundesland, um eine formale Gleichstellung mit Flandern und Wallonien zu erreichen.

Etwa 100.000 bis 120.000 Belgier sind Sprecher verschiedener Varianten des Deutschen. Das sind fast doppelt so viele wie die in der DG – und nur dort ist Deutsch die Haupt-Amtssprache – registrierten 68.000 Personen. Das Verbreitungsgebiet der deutschen Sprache läßt sich außerhalb der DG in vier geographische Regionen Ostbelgiens einteilen. Altbelgien-Nord (ugs.: Montzener Land) grenzt im Norden an den niederländischen Sprachraum. In den Zentren Welkenrat, Montzen und Bleiberg wird neben der französischen Standardsprache ein niederfränkischer Dialekt verwendet. In dem einst neben der Eupener Region ebenfalls zum deutschen Kaiserreich gehörenden heutigen Neubelgien-Malmedy (ugs.: Malmedyer Wallonie) lebt eine per Gesetz geschützte deutsche Minderheit. Altbelgien-Mitte (ugs.: Bocholzer Ecke) liegt südwestlich des Kantons St. Vith und stellt ein deutsch-französisches Übergangsgebiet mit deutschen Dialektformen dar. Altbelgien-Süd schließlich, das Areler Land, ist sprachlich ähnlich wie Bocholz situiert, liegt aber als Exklave im Süden Walloniens. Arel, die Hauptstadt der Provinz Luxemburg, ist neben Eupen größte Stadt des deutschen Sprachgebietes, verfügt jedoch über keine Minderheitenschutzbestimmungen.

Angesichts dieser Verhältnisse könnte es möglich werden, vor einer Umwandlung der Deutschsprachigen Gemeinschaft in eine Region deren Gebietsstand zu überprüfen. Vorstellbar wären territoriale Erweiterungen um das Montzener Land, Bocholz und Arel sowie die Herstellung einer Landverbindung zwischen den derzeit getrennten Kantonen Eupen und St. Vith durch Zuteilung unbewohnter Landstreifen des Hohen Venns. In denjenigen Gemeinden mit deutschem Sprachanteil, die auch zukünftig wallonisch verblieben, sollte dann über einen besseren Minderheitenschutz nachgedacht werden. Bislang ist dieser höchst unbefriedigend und bezieht sich nur auf die "Malmedyer Gemeinden", wo er zudem – beispielsweise in Sprachangelegenheiten – lediglich fakultativer Natur ist.

Im Hinblick auf die Tatsache, daß der Sprachenstreit in Belgien auch durch die vierte Verfassungsreform kein Ende genommen hat – äußeres Zeichen dafür ist der Zulauf zu Parteien wie dem wallonischen Front National oder dem Vlaams Blok –, ist mit immer neuen Föderalisierungsschritten vor allem von seiten der Flamen zu rechnen. Ein Auseinanderbrechen Belgiens ist leicht vorstellbar und wird mit Blick auf die frankophone Wallonie auch von wichtigen Politikerkreisen in Paris ausdrücklich bejaht.

Doch was geschähe im Ernstfall mit den Ostkantonen? – Ein Zusammengehen mit Wallonien liefe, trotz einiger soziologischer und kultureller Unterschiede, langfristig wohl auf einen Anschluß des allein kaum lebensfähigen wallonischen Staates an Frankreich hinaus. Auf Autonomie im nach wie vor sehr zentralistischen Frankreich bräuchten die Deutschen dann nicht zu hoffen. Eine Eigenstaatlichkeit Eupens und St. Viths ist völlig unrealistisch. Gleiches gilt für eine Vereinigung mit Luxemburg: Weder wären maßgebliche Luxemburger Kreise darauf erpicht, 68.000 Neubürger zu übernehmen, die der Landessprache Letzeburgisch nicht mächtig sind, noch wäre es für die autonomiegewohnten Deutschbelgier einfach, sich in ein in Verwaltungsfragen französischsprachiges Gebiet einzugliedern. In Deutschland schließlich verlören sie zwar ihre administrative Sonderrolle, wären jedoch mit ihrem wirtschaftlichen, kulturellen und historischen Hinterland vereint, wenn auch nur als Landkreise Nordrhein-Westfalens (Eupen) und von Rheinland-Pfalz (St. Vith).

Die unter den Deutschen in Ostbelgien bisher – folgt man entsprechenden Umfragen – große Skepsis gegenüber der letztgenannten Variante könnte im Ernstfall mangels annehmbarer Alternativen schnell dahinschwinden.


 
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