© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Enthüllung: Der "Fall Yann Piat" und die Italisierung der französichen Politik
Politikersterben an der Côte d`Azur
von Robert Schwarz

Seit über einer Woche spricht ganz Frankreich über ein Buch: "L’Affaire Yann Piat". In diesem Enthüllungswerk zweier bislang für ihre sauberen Recherchen bekannter Journalisten wird Haarsträubendes behauptet: Zwei Ex-Minister hätten vor vier Jahren Agenten eines der vielen französischen Geheimdienste mit der Ermordung der streitbaren südfranzösischen UDF-Abgeordneten Yann Piat betraut.

In den mutmaßlichen Auftraggebern, die nur "Encornet" und "Trottinette" genannt werden, erkennt der Leser leicht den ehemaligen Verteidigungsminister und UDF-Vorsitzenden Léotard sowie den Marseiller Bürgermeister und derzeitigen Regionalratspräsidenten von Provence-Alpes-Côte d’Azur, Gaudin. Im letztgenannten Amt möchte Léotard seinen Parteifreund Gaudin gerne beerben – so kommt das Buch fünf Monate vor dem Urnengang äußerst ungelegen.

Die Hintergründe der Ermordung Yann Piats, die 1988 vom Front National (FN) zur rechtsliberalen Parti Républicain (PR) überwechselte, konnten bis zum heutigen Tage nicht vollständig aufgeklärt werden. Zwar vermag noch kaum jemand so recht an das zu glauben, was das neue Buch suggeriert, doch die Angelegenheit ist auf jeden Fall mehr als brisant. Selbst Präsident Chirac sah sich bereits zu einer öffentlichen Stellungnahme veranlaßt: Für ihn stehen das Funktionieren der Demokratie und der Rechtsstaat insgesamt auf dem Spiel. Nicht etwa, weil nachweislich über Jahre hinweg Sand ins Getriebe einer gerichtlichen Untersuchung des Mordes an einer Volksvertreterin gestreut wurde, sondern weil die Ehre zweier ehemaliger Minister verletzt worden sei.

So setzte denn auch der neue sozialistische Verteidigungsminister schnell eine Untersuchung in Gang, bei der allerdings nicht die Umstände des Verbrechens erhellt, sondern der angeblich aus einem konkurrierenden Geheimdienst stammende Informant der Buchautoren dingfest gemacht werden soll. Gleichzeitig versicherte der Anwalt von Piats Tochter, ein hoher Staatsbeamter habe ihm zu verstehen gegeben, daß es nicht in Frage käme, die als geheim eingestufte Akte Piat der Justiz zugänglich zu machen.

Bei der bürgerlichen Rechten Frankreichs geht die Angst um: Angst vor einer Implosion des gesamten politischen Systems, die beginnend mit einer Reihe mysteriöser Vorfälle in Südfrankreich schließlich in einer Kettenreaktion – vergleichbar dem Geschehen in Italien – die Macht der etablierten Parteien zerstören würde. Léotards Anwalt, der RPR-Abgeordnete Devedjan, begründete seinen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung gegen die Verbreitung bestimmter Buchpassagen bezeichnenderweise damit, daß die Beschuldigungen gegen seinen Mandanten vor allem dem Front National nützten. Devedjan nährt damit Verschwörungstheorien, daß der FN mittels sympathisierender Geheimdienstleute die beiden linksliberalen Verfasser manipuliert haben könnte. Einige UDF-Politiker sehen wiederum ein Komplott des neogaullistischen RPR, der Südfrankreich politisch allzu gern übernehmen würde.

Die Partei Le Pens ist, abseits abstruser Spekulationen, unstreitig der politische Nutznießer des selbstverschuldeten Zerfalls bisher festgefügter Strukturen an Frankreichs Südflanke. Gerade der Mordfall Piat, der jetzt die Lunte an ein hochexplosives Gemisch aus Mafia und Politik legt, hat dem Front National schon einige Erfolge beschert. Bereits wenige Wochen nach dem gewaltsamen Tod der unbestechlichen Parlamentarierin, die zwar der PR beigetreten war, aber den Machenschaften ihrer neuen Parteifreunde den Kampf angesagt hatte, mußte Maurice Arreckx, der ehemalige Bürgermeister von Toulon, Vorsitzender des Generalrates des Departement Var und Senator, sein als sicher geglaubtes Generalratsmandat an eine bis dato unbekannte FN-Bewerberin abtreten. In der Folge eroberte die Rechtspartei 1995 das Rathaus der Hafenstadt und stellt seit Juni desselben Jahres mit Bürgermeister Le Chevallier den einzigen FN-Abgeordneten in der Nationalversammlung.

Arreckx, der "Pate des Var", wurde mittlerweile wegen Betrugs und Vorteilsnahme in Millionenhöhe verurteilt und muß sich seit Montag dieser Woche erneut vor Gericht verantworten. Während sich der 79jährige jedoch bester Gesundheit erfreut, wurde sein Hauptkomplize, der Chef der Unterwelt von Toulon, 1993 Opfer eines Mordanschlags. Tot sind auch die Brüder Saincené, die offenbar zuviel über den Fall Yann Piat wußten und deshalb 1994 "Doppelselbstmord" begingen. Über den Beigeordneten für Kommunikation beim Touloner FN-Bürgermeister, Poulet-Dachary, der vor zwei Jahren unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, hieß es offiziell, er sei betrunken die Treppe zu seiner Wohnung herabgestürzt. Bei diesem Sturz gingen gleichzeitig wichtige Dokumente verloren, die die frühere Stadtverwaltung hätten belasten können.

Anfang des Jahres mußte Bürgermeister Le Chevallier persönlich nach Morddrohungen aus dem "Milieu" vom Innenminister unter verschärften Polizeischutz gestellt werden. Und in der letzten Woche wurde die Reihe ungewöhnlicher Freitode im Süden des Landes fortgesetzt: "Alles deutet auf einen Selbstmord hin", so die lapidare Feststellung des untersuchenden Staatsanwaltes zum Tod des Regionalratsabgeordneten André Isoardo. Fünf Schüsse benötigte der Politiker, um sich vom Leben zum Tode zu befördern. Ein bisher "nicht gefundenes" Projektil durchschlug die rechte Hand des Rechtshänders.

Isoardo war 1989 auf Betreiben Gaudins mit fünf Kollegen von der FN-Fraktion zur UDF-Gruppe übergewechselt und 1992, diesmal auf der Liste Gaudins, wiedergewählt worden. Eine erneute Kandidatur auf dieser Liste im nächsten Jahr lehnte Isoardo, der zwischenzeitlich Departementssekretär des national-konservativen Centre National des Indépendants (CNI) geworden war, ab. Sein Ziel bestand darin, eine gemeinsame Kandidatur von CNI und FN zustande zu bringen. Ein Vorhaben, das die Chancen Le Pens entscheidend gefördert hätte, Präsident des Regionalrates von Provence-Alpes-Côte d’Azur zu werden.

An der sonnigen Mittelmeerküste scheint die Lebenserwartung für solche Leute eher gering zu sein, die bestimmten Politikern zu unbequem werden. Wenn als Risikofaktor außerdem noch aktive politische Betätigung hinzukommt, sind die Nebenwirkungen unvorhersehbar.


 
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