© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/97  10. Oktober 1997

 
 
Pankraz, die Pickwickier und der Dauerwahlkampf

In den letzten Wochen sind eine Menge Vorschläge zur institutionellen Verbesserung der deutschen Politik ventiliert worden, Bändigung des Föderalismus, Mehrheitswahlrecht, Reduzierung der Abgeordnetenzahlen, indes, niemand nahm bisher das Institut des Wahlkampfs ins Visier. Zwar zeigten sich alle entsetzt über die Kohlsche Drohung kürzlich, von jetzt ab bis zur Bundestagswahl nur noch Wahlkampf zu machen, alle stöhnen über den "ewigen Wahlkampf", aber man nimmt ihn offenbar als unabwendbares Schicksal, gegen das man nichts machen kann. Das ist sehr merkwürdig.

Seit den unsterblichen "Pickwick Papers" von Charles Dickens mit den grotesken Wahlkampfszenen zwischen den "Gelben" und den "Blauen" gilt es doch als ausgemacht, daß jede gute Demokratie den Wahlkampf kurz und knapp halten sollte und daß gesetzliche "Fairnessregeln" notwendig sind, um die Belästigung und Verhohnepiepelung der Bürger durch die Wahlkämpfer in Grenzen zu halten. Warum handelt man denn nicht endlich? Im Parlament sind die Redezeiten begrenzt, warum nicht außerhalb des Rostrums, außerhalb der parlamentarischen Bühne?

Demokratie und Wahlkampf, hatten schon die Mitglieder des Pickwick-Klubs erkannt, schließen sich im Grunde gegenseitig aus. Demokratie ist eine Regierungsform, Wahlkampf hingegen ist Suspendierung jeglichen Regierens, eine Art Karneval. Diejenigen, die regieren sollten, stülpen sich Narrenkappen über, blasen in Papptrompeten und halten Reden, an deren Versprechungen keiner glaubt, auch die Dümmsten nicht, in denen es nur noch auf Pointe und Zwischenruf und Tätärätä ankommt. "Sie kennen mich, meine Herren, ich will immer nur das Gute, das Beste", schmettert der gelbe Wahlkämpfer in den Saal, und die Anhänger der Blauen rufen zurück: "Das stimmt, aber wir wollen auch mal was Gutes!"

Nur drei Prozent der Wähler, hat einmal, noch in den dreißiger Jahren, das Gallup-Institut getestet, ändern ihre Präferenz auf Grund von Wahlkampfreden. Trotzdem versprechen die Wahlkämpfer das Blaue, bzw. Gelbe, vom Himmel herunter, obwohl sie sich damit, in Deutschland zumindest, strafbar machen; laut Paragraph 108a StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft, "wer einen Wähler in einen Irrtum über Inhalt und Gültigkeit seiner Wahl versetzt".

Nun, das ist wohl eher eine formale Regelung, und die Juxreden am Rande der Legalität mögen hingehen, solange sie zeitlich limitiert werden und sich wahrnehmbar vom eigentlichen politischen Geschäft abheben. Aber genau dies ist im Dauerwahlkampf bekanntlich nicht mehr der Fall. Die Juxreden überschreiten dann jedes Limit, die Unterschiede zwischen Karneval und Politik verwischen sich endgültig, und zwar auf Kosten der Politik, die nun insgesamt in den Geruch des Unseriösen, Krawalligen und prinzipiell Verlogenen gerät.

Manch "objektive" Entwicklung begünstigt die fatale Konstellation. Seit den Tagen der Pickwickier und der frühen Gallup-Umfragen hat sich der Anteil des Redens und Kundgebens, des Versprechens und Pointenablassens an der Politik ins Riesenhafte gesteigert. Der mediale Apparat will bedienst werden, und er giert nach scharfen Kontrasten und grober Reklamesprache, nach Parolen und Werbesprüchen. Zahllose Kameras sind unablässig auf die Hauptakteure gerichtet, hunderte von Mikrophonen werden ihnen entgengehalten, allabendlich setzt es Schaukämpfe um winzige Nuancen in sämtlichen Kanälen. Ständig muß etwas gezeigt, sichtbarlich bekräftigt oder abgewehrt werden.

Der moderne politische Apparat verführt also regelrecht zum Zum-Fenster-hinaus-Sprechen, zum Dauerwahlkampf. Doch man muß der Verführung nicht nachgeben, niemand zwingt die Politiker dazu, den Tiger zu reiten und auf einen Narren anderthalbe zu setzen, im Gegenteil, im Publikum wächst ein Bedürfnis nach sachlicheren, präziser und ehrlicher argumentierenden Volksvertretern. Die Dauerwahlkämpfer sollten ihren eigenen Unterhaltungswert nicht überschätzen.

Auch Karneval ist als Dauerveranstaltung nicht unbedingt erstrebenswert, die Gaudi wiederholt sich und nützt sich dadurch ab, die meisten sind jedesmal ganz froh, wenn der Aschermittwoch gekommen ist. Wahlkampfphrasen und Wahlkampfposen nützen sich natürlich noch viel schneller ab, erstarren in lähmender Routine, legen sich wie Mehltau auf Nachrichten und abendliche Fernsehrunden – und der Wahltag ist noch weit, allzu weit.

In der FAZ erschien dazu die passende Karikatur: Die Wahlkampfwalzen der Parteien umkreisen knatternd und kreischend in ewiger Wiederholung das Haus der Wähler, und ein Wähler sagt per Sprechblase zum andern: "Zwölf Monate diesen Lärm – wie soll der Mensch das aushalten!" Wenn es so weitergeht, wird demnächst eine Zeichnung fällig werden, auf der die Wähler aus ihrem Haus herauskommen und die Walzenfahrer einfach aus ihren Führerständen kippen. Alles in der Welt hat seine Grenzen.

Im übrigen bliebe anzumerken, daß die Kalamität gegenwärtiger deutscher Politik nicht in erster Linie in institutionellen Hemmnissen liegt, weder im Föderalismus noch im Verhältniswahlrecht und nicht einmal im Dauerwahlkampf. Dieser ist ja nur ein Reflex des Unwillens bzw. der Unfähigkeit, sich den wirklich anstehenden Problemen zuzuwneden, und der Angst, am Wahltag dafür die Quittung zu erhalten.

"Warum fürchten sie sich denn alle so?", fragt bei Dickens erstaunt ein gebildeter, aber begriffsstutziger Pickwickier angesichts des hektischen Wahlkampfs der Gelben und der Blauen. "Sicher, ‘Wahltag ist Zahl-tag’, election-day ist pay-day. Aber vor dem Wahltag braucht sich doch kein Gentleman zu fürchten, sondern nur jemand, der etwas schuldig geblieben und nicht in der Lage ist, die Rechnung zu begleichen."


 
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