© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/97  10. Oktober 1997

 
 
Die Zerstörung Europas
von Bernd-Thomas Ramb

Die mangelnde demokratische Legitimation der Europäischen Union ist schon jetzt unverkennbar. Insbesondere die Verteilungen der Sitze im Europaparlament und der Stimmen im Ministerrat auf die an der Europäischen Union beteiligten Staaten offenbaren eine eklatante Verletzung der grundlegenden Regel der Demokratie, daß jeder Mensch in seinen Grundrechten gleich zu behandeln ist. "One man, one vote" wird in der Europäischen Union, und im übrigen auch im künftigen Europäischen Zentralbankrat nicht eingehalten. Dabei zählt auf der Skala der Ungleichheit innerhalb Europas der Luxemburger natürlich am meisten und der Deutsche zwangsläufig am wenigsten.

Auch die Tatsache, daß die eigentliche Entscheidungsgewalt im gesetzgeberischem Sinne nicht beim Europaparlament, sondern beim Ministerrat – in zahlreichen Fällen aber auch faktisch bei der EU-Kommission – liegt, erscheint zunächst als undemokratische Regelung. Der Ministerrat stellt im Kern nichts anderes dar, als eine Vertretung der Exekutivgewalt der beteiligten Staaten. Seine Zusammensetzung läßt sich vom Wahlvolk der einzelnen EU-Staaten nur über mehrere Stufen indirekt kontrollieren.

Die relative Vernachlässigung des Europaparlaments ist dagegen insofern durchaus begründet, als das Europaparlament selbst auf keiner demokratischen Konstruktion basiert. Dagegen spricht nicht nur, daß die Kandidaturen und Wahlen zum Europaparlament nicht europaweit, sondern auf nationalstaatliche Grenzen beschränkt erfolgen, sondern auch und vor allem die Tatsache, daß Demokratie die Exi-
stenz eines Volkes voraussetzt. Ein europäisches Volk existiert jedoch nicht.

Schon jetzt sind auch die grundsätzlichen Widersprüche zwischen dem Recht der Europäischen Union und dem Grundrecht der deutschen Verfassung unübersehbar. Der Maastricht-Vertrag nimmt für sich einen Verfassungscharakter in Anspruch, der nach Auffassung der Brüsseler Kommission die nationalen Verfassungen an Kompetenz übersteigt. In dieser Haltung wird die Kommission durch die grundsätzliche Auffassung und die praktizierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestärkt.

Die Problematik des Verfassungscharakters des Maastricht-Vertrags besteht erstens in der Tatsache, daß sein Gültigkeitsbereich einen nicht national abgegrenzten Raum umfaßt. Da das europäische Volk nicht existiert, kann es auch keine europäische Verfassung geben. Zum zweiten ist zu bedenken, daß die Beschlußfassung über den Maastricht-Vertrag nicht auf einer basisdemokratischen Weise erfolgte, nicht einmal durch die Einsetzung einer Verfassungskommission, sondern durch bloßen Beschluß von Regierungschefs. Der Umstand, daß eine nachträgliche Ratifizierung durch die nationalen Parlamente erfolgte, stellt, insbesondere soweit der verfassungsrechtliche Charakter berührt ist, keine ausreichende Legitimation durch das Volk dar. Dies gilt für Deutschland um so mehr, als den Deutschen eine Volksabstimmung über den Maastricht-Vertrag bis heute verwehrt wurde. Der im Rahmen der Europäischen Währungsunion vorprogrammierte Konfliktfall zwischen nationaler Verfassung und Maastricht-Verfassung steht unmittelbar bevor.

Durch das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der ehemalige Kabinettchef der EU-Kommission Manfred Brunner erstritten hat, werden nicht nur bestimmte zusätzliche Voraussetzungen für die Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion festgelegt, sondern auch die Dominanz der nationalen Verfassung über den Maastricht-Vertrag bekundet. Die von der Bundesregierung tolerierte Nichteinhaltung der Konvergenzkriterien, nach dem Urteil des Verfassungsgerichts unabdingbar für die deutsche Teilnahme, würde zu einem unmittelbaren Bruch der deutschen Verfassung führen. Für den europäischen Gerichtshof wäre dies jedoch irrelevant. Setzt sich dessen Auffassung durch, wäre der Einstieg in die Auflösung der
deutschen Verfassung erreicht.

Die durch die Einführung des Euros beschleunigte wirtschaftspolitische Zentralisierung Europas bewirkt neben der ökonomischen Uniformierung auch eine Zunahme der politischen Unfreiheit. Schon jetzt brüstet sich Brüssel, 70 Prozent der nationalen Gesetzgebung zentral vorzugeben. Die freie Gesetzesgestaltung der einzelnen EU-Staaten wird dadurch entsprechend eingeschränkt. Ein zweites Indiz für den zunehmenden Verlust der Freiheit besteht in dem Bestreben der Europäischen Union, neben der permanenten Erweiterung ihrer Einflußbereiche immer mehr Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip zu fällen. Die Einstimmigkeitsregelung stellt aber insbesondere für die kleineren Staaten das einzige Mittel dar, einseitige Mehr-
heitsbeschlüsse abzuwehren, die allein zu ihren Ungunsten getroffen werden.

Natürlich führt die Einstimmigkeitsregel zu einer Reduktion der EU-Gesetzgebung auf den kleinsten gemeinsame Nenner. Sie schützt damit aber auch gleichzeitig vor der Gefahr, die jedem pseudodemokratischen Abstimmungssystem anhaftet, eine Diktatur
der Mehrheit über die Minderheit zu ermöglichen.

Mit der Aufgabe dieses Schutzmechanismus führt die Entwicklung der Europäischen Union direkt zu der allumfassenden staatlichen Bevormundung der Bürger, wie sie aus der leidvollen Erfahrung der sozialistischen Systeme mit ihren engsten Beschneidungen der bürgerlichen Freiheiten bekannt sind. Die geschichtliche Erfahrung, daß solche Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme langfristig zum Untergang verurteilt sind, bietet dabei nur geringen Trost.

Der Euro führt zwangsläufig zu einer Teilung Europas. Diese Teilung erfolgt unter zwei Gesichtspunkten: innerhalb der bestehenden Europäischen Union und in ihrem Außenverhältnis. In beiden Fällen kann es zu Unstimmigkeiten und Konflikten hinsichtlich der Grenzziehung und der Zuweisung der Zugehörigkeit kommen, die gewaltsame Lösungsversuche der unzufriedenen Beteiligten nicht ausschließen.

Die Teilung, die der Euro innerhalb der EU unmittelbar hervorruft, ist die Aufteilung in Teilnehmerstaaten an Währungsunion und Nichtteilnehmer. Schon jetzt zeichnet es sich ab, daß die Maastricht-konformen Politiker dieses Problem durchaus erkannt haben und bemüht sind, das Konfliktpotential möglichst überhaupt nicht erst aktiv werden zu lassen. Die Diskussion um die angebliche Notwendigkeit eines möglichst großen Teilnehmerkreises bei der Einführung des Euros verstärkt in Verbindung mit der gleichzeitigen Bereitschaft zur Aufweichung der Konvergenzkriterien den Verdacht, daß alle Euro-willigen EU-Staaten von Anfang an bei der Währungsunion dabei sind. Umso schärfer ist dann aber auch die Ausgrenzung der EU-Staaten Großbritannien, Dänemark und – dem neuen Bemühen nach – Schweden, die kein Interesse an der gemeinsamen Euro-Währung haben oder erst einmal abwarten wollen.

Die Bewältigung der durch den aufgeblähten Teilnehmerkreis um so größeren Startprobleme des Euros verschärft aber auch die aus den zuvor beschriebenen Gründen vorhandene Nichtbereitschaft der Europäischen Union, die mittel- und osteuropäischen Staaten möglichst rasch aufzunehmen. Die mit dem Euro errichtete Festung Europa wird somit zu einem erneuten Zuziehen des "Eisernen Vorhangs" führen, der bis auf das Gebiet der ehemaligen DDR den gleichen Grenzverlauf vorweist wie zuvor.

Die vom Joch des Sozialismus befreiten und über Jahrzehnte in ihren natürlichen Ressourcen von der Zentralverwaltungswirtschaft ausgebeuteten Staaten verdienen nicht nur die moralische Unterstützung des sich als frei gerierenden Westens, sondern auch die Chance zum fairen marktwirtschaftlichen Wettbewerb. Den aber muß die zunehmend ineffizient wirtschaftende Europäische Union mehr und mehr fürchten. Die Maastricht-II-Konferenz hat gezeigt, daß die Diskussion um die Erweiterung der EU nach Osten neben der unerwünschten Machtverschiebung innerhalb der EU-Gremien vor allem vom Kostenaspekt dominiert ist.

Nach dem heutigen Umverteilungsschema der Europäischen Union würde die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten möglicherweise tatsächlich jährliche Mehrkosten von bis zu 150 Milliarden DM verursachen. Das übersteigt endgültig die Finanzierungsmöglichkeiten der EU-Geberländer. Die Alternative wäre eine grundlegende Reform der EU-Bürokratie. Dazu aber ist die Mehrheit der EU-Staaten nicht bereit. Insbesondere die Nehmerländer, die Abstriche an ihren Zuwendungen in Kauf nehmen, möglicherweise sogar in den Status der Geberländer wechseln müßten, signalisieren deutlich ihr Desinteresse an einer EU-Erweiterung.

Die Alternative lautet aber: Entweder werden die mittel- und osteuropäischen Staaten aufgenommen und eine Reform oder sogar Aufgabe des Maastricht-gebundenen EU-Systems akzeptiert oder die wirtschaftlichen und politischen Grenzen der EU müssen zum Osten hin aufgestockt werden, bis hin zu einer verstärkten physischen Abschottung durch Stacheldraht und Militärpatrouillen. Solange der europäische Westen noch einen Wohlstandsvorsprung gegenüber dem europäischen Osten besitzt und nicht bereit ist, den Reformstaaten durch freie Handelsmöglichkeiten die Chance zu eröffnen, selbst zu Wohlstand zu kommen, wird die Kluft zwischen Arm und Reich zu einem Druck von Ost nach West führen, der sich unter Umständen nicht nur in Wanderungsbewegungen äußert, sondern auch zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen ausweitet.


 
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