© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/97  10. Oktober 1997

 
 
FN-Wahlsieg: Etablierte ziehen falsche Konsequenzen
Ignorante Sozialpolitik

Am liebsten hätte Jean-Marie Bockel, sozialistischer Bürgermeister im elsässischen Mülhausen und Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, auf diesen Wahlgang ganz verzichtet. Doch daß er nach seiner Wahl ins Nationalparlament im Juni sein Amt als Generalrat (mit Zuständigkeiten u. a. für die Sozialhilfe, das Schulwesen und den Straßenbau) wegen Ämterhäufung niederlegen mußte, war unabänderlich.

Und so wurden die Stimmbürger im oberelsässischen Wahlbezirk Mülhausen-Nord am 21. bzw. 28. September erneut an die Urnen gerufen, um sich für einen von sieben Bewerbern zu entscheiden.

Obwohl es niemand recht zugeben mochte, so wußte doch jeder, daß es erneut ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen einer Linksallianz und dem rechten Front National (FN) geben würde. Das Ergebnis des ersten Wahlganges mit dem guten Abschneiden des oberelsässischen FN-Chefs Gérard Freulet war keine große Überraschung: Mit 44,61% ließ dieser seinen Konkurrenten Jean Grimont (24,5%), den Kandidaten von Sozialisten, Kommunisten und Grünen, weit hinter sich.

Erstaunlicher war der Sieg Freulets in der Stichwahl (53,6%), obwohl das Parteien-Establishment zuvor noch einmal alle Reserven mobilisiert hatte und die Wahlbeteiligung von 20% auf 40% stieg. Weder die Auftritte von Innenminister Jean-Pierre Chevènement sowie der Kultusministerin, Regierungssprecherin und scharfen FN-Gegnerin Catherine Trautmann zeigten Wirkung noch die abgestandenen Parolen von den Verheißungen des "Euro" und den "Chancen" einer multikulturellen Gesellschaft. Den Ausschlag gaben die realen sozialen Nöte der Bürger und deren existentiell empfundenes Sicherheitsbedürfnis in einem Kanton, der als sozialpolitisch extrem schwierig gilt (hohe Arbeitslosigkeit, besonders viele Nordafrikaner und eine stark gestiegene Kriminalitätsrate).

Seinen Erfolg erklärt sich der studierte Jurist und Politologe Freulet, der 1984 von der neogaullistischen RPR zum FN überwechselte, dadurch, daß die "Linksschickeria" diesen Bezirk "seit Jahren völlig vernachlässigt" habe. In seinem Programm fordert der 48jährige Hotelbesitzer eine stärkere Polizei, Steuersenkungen für Unternehmen und Privatpersonen, niedrigere Tarife von Altersheimen sowie einen Zuzugsstopp für Ausländer. Vor allem aber sollen "Franzosen" Vorrang haben – bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, überall.

Statt programmatisch in sich zu gehen, bereiten die FN-Gegner eine spezielle Offensive vor: Adrien Zeller, Präsident des elsässischen Regionalparlaments, hat seiner Partei (UDF) vergangene Woche einen Plan zur Wahlreform vor den Regionalratswahlen im März 1998 vorgelegt. Ziel ist die regionalpolitische Ausgrenzung des Front National.

Das Vorhaben wird am 9. Oktober in der Nationalversammlung zur Diskussion gestellt. – Wird sich das Szenario von ’86 wiederholen, als das bis dahin auch für Parlamentswahlen geltende Verhältniswahlrecht geändert wurde, weil es für die Partei Le Pens Vorteile bot?


 
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