© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/97  03. Oktober 1997

 
 
Im Gespräch: Jugendliche aus Rußland und Estland über Ihr Bild von Deutschland
"Das Machtzentrum im Westen"

von Götz Kubitschek

Dimitri Katajew, 1978 in Krasnodar (Südrußland) geboren, studiert Deutsch und Englisch an der Pädagogischen Hochschule in Lipezk. Dmitri lernt Deutsch seit der Schulzeit und hat in einer Spracholympiade den 1. Platz belegt. Neben dem Studium arbeitet Dmitri als Dolmetscher bei Alcatel und als Lehrer in einer Berufsschule.

Pärtel Piirimäe, 1972 im estnischen Dorpat (Tartu) geboren, studiert dort Geschichte. In seiner Magisterarbeit beschäftigt er sich mit der Verfassungsgeschichte Estlands. Auch Pärtels Ehefrau Eva stammt aus Dorpat und ist 1974 geboren und studiert dort Geschichte, Philosophie und Semiotik.

Dimitri, wie wichtig ist für Dich und andere Studenten Deutschland, wie wichtig ist die deutsche Sprache?

Dimitri: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland sind viel enger als die Beziehungen zwischen England und Rußland. Ich kenne zum Beispiel viele Englischstudenten, die noch nie in England waren, dafür aber schon mehrere Male in Deutschland. Unsere Hochschule hat viele Beziehungen mit Deutschland, über den Akademischen Austauschdienst, das Goethe-Institut und natürlich über die Ost-West-Gesellschaft. Die Studenten interessieren sich für die deutsche Literatur, für Theodor Fontane und Franz Kafka. Aber die meisten sind an wirtschaftlichen Beziehungen interessiert.

Wenn Du an Deutsche denkst, welche Eigenschaften fallen Dir zuerst ein?

Dimitri: Die Deutschen sind pünktlich, spießig und wohlhabend.

Was meinst Du mit "spießig"?

Dimitri: Ihr seid nicht locker genug und habt immer Angst von neuen Entwicklungen. Und es muß immer alles ordentlich zugehen, es gibt keine Ausnahmen.

Bist Du ein politischer Mensch?

Dimitri:Ich bin politisch schon interessiert, aber nicht festgelegt. Ich halte es aber für sehr wichtig, sich in meinem Alter mit Politik zu befassen.

Du kannst von Dir also nicht sagen: Ich bin eher kommunistisch oder eher nationalistisch ausgeprägt.

Dimitri: Das sind Extreme, auf die ich überhaupt nicht komme. Wenn ich überhaupt einen Platz nehmen kann, dann einen in der Mitte.

Und wie sieht das bei den anderen Studenten aus?

Dimitri: Ehrlich gesagt ist unseren jungen Leute die Politik egal, und das tut mir ein bißchen weh. Meiner Meinung nach sollten wir uns als junge Generation politisch ausbilden. Zur Wahl gehen nur die Alten, und die sind zum größte Teil kommunistisch ausgebildet. Die Jungen sind, wenn sie überhaupt politisch denken, gemäßigt. Meine Freunde haben zum Beispiel Sjuganow nicht gewählt, alle dafür Jelzin. Die meisten denken aber lieber über ihren Beruf oder die wirtschaftliche Situation nach.

Wer sind deine Vorbilder?

Dimitri: Ich habe keine Vorbilder.

Lesen die jungen Leute noch Solschenizyn?

Dimitri: Nein, der spielt keine Rolle mehr. Der war vielleicht nach der Wende einmal wichtig, jetzt lesen wir ihn nicht mehr.

Pärtel, Du sprichst hervorragend Deutsch. Sind Dir die Kontakte hierher so wichtig?

Pärtel: Ich habe – wie Eva auch –in der Schule zuerst gründlich Englisch gelernt. An der Universität hat man uns gesagt, Deutsch sei für Geschichte sehr wichtig und von grundlegender Bedeutung. So habe ich gleich angefangen, Deutsch zu lernen. Zuvor hatte ich schon politische Kontakte mit Deutschen. Ich war in Estland Mitglied bei den Jungen Liberalen, 1990 besuchte ich dann in Berlin den Vereinigungskongreß der Jungen Liberalen. Als nächstes kam dann Weikersheim, wir wurden eingeladen über den estnischen Botschafter in Bonn, und schon auf der ersten Studienwoche vor fünf Jahren war eine große Gruppe aus Estland dabei. Im Studium habe ich schnell bemerkt, wie wichtig die Beziehung zwischen Estland und Deutschland durch die Jahrhunderte war. Studiert habe ich auch in Deutschland, 1993 für ein Jahr in Göttingen, dann noch einmal 1995 und 1996. So habe ich die Sprache gut gelernt und habe dazu viele Kontakte.

Welches Land ist denn im Westen der wichtigste Partner Estlands?

Eva: Das ist schwierig zu beantworten. Ich glaube, daß Skandinavien den ersten Platz für sich eingenommen hat, vor allem, weil die finnische Sprache der estnischen so ähnlich ist. Die ersten Kontakte gabe es auch zu Finnland, und bei uns sagt man, daß jeder Este seinen eigenen Finnen hatte und umgekehrt. Danach kamen die anderen skandinavischen Länder, und Deutschland folgte vor allem wegen der deutschbaltischen Volksgruppe. Gerade für uns Historiker ist diese geschichtliche Beziehung so wichtig. Etwa ein Drittel der Schüler lernt Deutsch, für sie gibt es auch einen direkten Bezug. Aber ich glaube, für die anderen nicht so sehr.

Euer wichtigster Partner ist doch sicher Rußland, schon aufgrund der russischen Minderheit im Land.

Pärtel: Als wichtigsten Partner würde ich Rußland nicht bezeichnen, rein wirtschaftlich ist Finnland an erster Stelle. Politisch gesehen liegt Estland zwischen Rußland und Europa, und in letzter Zeit, seit der Unabhängigkeit, hat Estland natürlich versucht, sich stark an Deutschland zu orientieren, weil Deutschland eben das nächste Machtzentrum im Westen ist. Die Politik mit Rußland ist eher die weitere Loslösung von den Einbindungen. Wirtschaftlich gibt es natürlich enge Beziehungen. Und ich denke, wenn zum Beispiel der Grenzvertrag mit Rußland abgeschlossen ist, wird das den Handel erleichtern.

Ihr bekommt hier in Deutschland mit, wie schwer sich unser Land mit Nationalbewußtsein und Heimatliebe tut. Könnt ihr das nachvollziehen?

Pärtel: Ich kenne Deutschland schon ganz gut und kenne das Problem. Ich finde es auch gefährlich, wenn alle versuchen, in der Politik immer in der Mitte zu sein, wenn sich die Parteien also kaum voneinander unterscheiden, und alles, was weiter rechts oder links liegt, als extremistisch diffamiert wird. Eine normale Bewegung des Pendels ist dann nicht mehr möglich.

Eva: Ich finde auch, es ist schlimm, wie sehr in Deutschland mit Klischees und Schlagwörten diskutiert wird. Die Bandbreite ist viel größer und differenzierter.

Wollt ihr jungen Esten in die EU?

Eva: Ja, auf jeden Fall. Ich sehe keine ander Perspektive. Alle Alternativen sind nur Scheinalternativen, nicht logisch durchdacht, denn wir werden ungeheuer davon profitieren. Eine Isolationspolitik können wir uns nicht leisten, gerade als kleines Land nicht. Ja, es gibt keine Alternative. Götz Kubitschek


 
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