© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/97  03. Oktober 1997

 
 
SPD:Eine Volkspartei entfremdet sich dem Wähler
Dem Volk mißtraut

von Hans-Peter Rissmann

Das wichtigste in der Politik ist anders als in der politischen "Erinnerungskultur" – das schnelle Vergessen. Die Genossen in Hamburg beeilen sich zu vergessen, was ihrem Steuermann Voscherau widerfuhr. Dessen Schmerzgrenze ward "überschritten", als ihm das Wahlvolk nicht mehr parieren wollte. In der Freude über die nächste rot-grüne Traumhochzeit an der Alster ist dieser Schmerz über das Leid der Genossen bereits wieder vergessen. Doch was vom Kater auf der Reeperbahn bleibt, sind anhaltende Kopfschmerzen für die sozialdemokratische Führungsriege: Wie kriegen wir doch noch die Kurve für den heißersehnten "Wechsel"? Ein Tony Blair ist nicht in Sicht, für die Rolle des moralischen Erneuerers der Nation fehlen sowohl dem lebensfrohen Lafontaine als auch dem von Hillu befreiten heilfrohen Schröder Format und Überzeugungskraft.

Noch verschließen sich die potentiellen Kanzlerkandidaten in Schaukämpfen um Euro, Lohnnebenkosten und innere Sicherheit! Doch nein, eben dieses letztere Thema, so tönt es ihnen aus den eigenen Reihen und von den Grünen entgegen, habe zum Hamburger Debakel geführt, habe das tumbe Wahlvolk nur noch weiter nach "rechts" getrieben. An derlei Kritik ist so manches dran; erstens, die Wirklichkeit hat überzeugte "linke" Advokaten des Volkes noch nie gestört. Zweitens, das Volk, der alte Lümmel, entzieht sich der fürsorglichen Hand der Lenker.

Die Lernpozesse bei den "Modernisierungsverlierern", den einstmals mit Freibier und proletarischer Solidarität umsorgten Arbeitern, gehen schneller als den fortschrittsfreudigen "VorkämpferInnen" des 21. Jahrhunderts – "LehrerInnen", "Sozialarbeiter-Innen", "PastorInnen" – lieb sein mag: Wer im Sozialen Wohnungsbau lebt, wer noch Kinder in die Welt setzt, die in der sozial-liberal-grünen Welt zwischen verdrecktem Spielplatz, Gesamtschule und Drogenstrich no future erleben, der braucht keine akademische Nachhilfe über die soziokulturelle, multikulturelle Transformation seiner Lebenswelt.

Auch ohne Belehrung durch die "Tagesthemen" weiß der Wähler aus altem SPD-Milieu, was "Modernisierung" am Ende der neunziger Jahre bedeutet: Der Sozialstaat ist pleite, das sozialdemokratische Jahrhundert geht unter Helmut Kohl (CDU) zu Ende, in der postindustriellen Arbeitswelt geht die Arbeit aus. Gewiß auch deswegen, weil der von linken Genossen einst geliebte, jetzt geschmähte Nationalstaat zwischen Maastricht und Globalisierung auf der Strecke geblieben ist, ohne daß es Oskar, Gerhard oder Heide hindern wollten oder konnten. Die Arbeitsplätze wandern ab, die Migranten wandern ein…

Einst wurde den sozialistischen Intellektuellen angesichts des proletarischen Elends und des proletarischen Klassenstolzes warm ums Herz. Von derlei Sentimentalität künden heute noch Ausstellungen in Volkshochschulen und Parteiarchiven. Müßig zu fragen, wann den deutschen Sozialdemokraten die Liebe zum Volk abhanden kam, irgendwann vor oder nach 1968.

Jedenfalls ließen sich die Genossinnen und Genossen vor und nach dem Mauerfall von Willy Brandts Enthusiasmus für die deutsche Einheit nicht anstecken. Dafür bekamen Lafontaine – und die Grünen – im Dezember ’90 die Quittung. Die Lehre daraus haben weder Parteifürsten noch das Funktionärsvolk in den Kommunen, die quotenverstärkte Genossin Filz je gezogen…

Nicht erst in Hamburg wurde deutlich, was der Generationenwandel in der Partei für den Strukturwandel der deutschen Gesellschaft bedeutet: Die Liebe zu den naziverdächtigen Nachfahren der deutschen Arbeiterbewegung ist längst erloschen. Das Volk geht in der liberalen Demokratie die "Linke" nur solange etwas an, wie es an der Wahlurne die Stimmen abliefert. Nichts verabscheut diese Linke mehr als "Populismus", kümmert sich folglich einen Deibel ums eigene Volk zwischen Frankfurt/Oder und Frankfurt am Main, zwischen der Hansestadt Rostock und der Hansestadt
Hamburg.


 
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