© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/97  03. Oktober 1997

 
 
Memorandum: Wie beobachten die USA Hitlers Aufstieg?
Genaue Vorhersagen

von Alfred Schikel

Es schien fast wie ein unverrückbarer Glaubenssatz, daß sich die Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Abschluß der Pariser Vorortverträge für die nächsten fünfzehn Jahre von der Weltpolitik zurückgezogen und sich nur noch innenpolitischen Problemen zugewandt hätten. Die Bekämpfung der in den zwanziger Jahren die USA heimsuchenden Ku-Klux-Klan-Terroristen und die Steuerung des liberalistischen Wirtschaftsbooms gaben offenkundig plausible Gründe für die Abkehr von der internationalen Politik ab und verschwammen mit der Neutralitätsgesetzgebung des Kongresses zum Isolationismus. Erst die mit dem Aufstieg Adolf Hitlers eingetretenen Verwerfungen in Mitteleuropa hätten die USA wieder in das internationale Mächtespiel zurückgeholt und sie zu den bekannten Reaktionen und Interventionen unter Präsident Franklin D. Roosevelt veranlaßt.

Im Widerspruch zu dieser verbreiteten Vorstellung verfolgten dort damals führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens die Entwicklungen in Europa. Durch den Sonderfriedensvertrag vom 25. August 1921 mit dem Deutschen Reich in freundlich-normalen Beziehungen stehend und wesentliche Bestimmungen des Versailler Vertrages ablehnend, zeigten sich die USA auf verschiedenen Ebenen am deutschen Schicksal anteilnehmend. Ein Interesse, das der im März 1933 ins Amt gekommene Präsident Roosevelt weiter verfolgte, wie die neuesten Untersuchungen der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) belegen.

 

Impressionen zur inneren Einheit Deutschlands

Da wird neben den üblichen diplomatischen Recherchen über die "neuen Verhältnisse" unter Kanzler Hitler auch ein vertraulicher Bericht Samuel R. Fullers dokumentiert, den Roosevelt selbst als "äußerst aufschlußreich" ("extremely interesting") bezeichnete und der vom 11. Mai 1933 stammt. Darin stellt sich der Roosevelt-Freund sieben Fragen, die er klar und mit kurzer Begründung beantwortete. Sie erstreckten sich von der Frage "Hat Hitler festen Boden unter seinen Füßen?"über "Was halten die einfachen Leute von ihm?" bis zum gewonnenen Eindruck von der Lage in Deutschland. Zu der für Roosevelt interessantesten Frage nach dem Weg und Ziel Hitlers erklärte Fuller: "Anscheinend weiß er, wohin er geht; und seine Ziele sind, Deutschland zur Begeisterung für das Vaterland zu erregen, die aufopferungsvoll im militaristischen Sinne und gemeinschaftsbetont in seinen Anstrengungen im Frieden ist. Offensichtlich ist ihm das in einem fast vollständigen Maße gelungen", um dann fortzufahren: "Im Volk gibt es allgemein massenhaft Anzeichen dafür, daß er seine Ziele erreichen wird, wenn er nicht vorzeitig stirbt oder einen schweren innenpolitischen Fehler macht oder im Krieg besiegt wird."

Wie schon im April 1933 beim ersten Boykott jüdischer Geschäfte interessierte sich die amerikanische Öffentlichkeit auch in den nachfolgenden Wochen für das Schicksal der Juden in Deutschland. Entsprechend schenkte auch Fuller dieser Frage Augenmerk und kam während seines Deutschland-Aufenthaltes zu der Überzeugung, daß Hitler die Juden endgültig ausschließen und nicht nur zeitweilig bestrafen und damit zu Wohlverhalten zwingen wolle. Im folgenden konstatierte er: "Im allgemeinen nehmen die Menschen die gesamte Judenfrage leicht und haben keine Vorstellung und kein Verständnis für die ausländische Kritik an der Judenpolitik der Nazis", und berichtete Roosevelt weiter: "Es wurde uns (ihm und seiner Frau) von vielen, auch von Dr. Schacht gesagt, daß nach dem Krieg Juden aus dem Osten in großer Zahl nach Deutschland gekommen seien, daß sie sich überall breitgemacht hätten, oben und unten, in der Regierung, während die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung nichtjüdisch ist. Das Erziehungsministerium ist weitgehend jüdisch. Die Berliner Universität hat 4 Prozent jüdische Studenten, 40 Prozent jüdische Professoren. In Berlin gibt es insgesamt 3.500 Anwälte – 2.600 davon sind Juden".

Bei seinem Besuch erschienen ihm die Menschen "überall glücklich, sogar fröhlich. Überall sah man Fahnen (…) Die Polizei tritt heute überall sehr jung, schneidig, aufrecht mit allem Anschein von militärischer Disziplin und Ausbildung auf (…) Die Nazipartei gibt den arbeitslosen jungen Männern offenbar Essen, eine Uniform und einen Lebensinhalt".

 

Große Maifeiern auf Kosten der Arbeitgeber

Als Industrieller schenkt Fuller naturgemäß dem Los der Arbeiterschaft und der Position der Arbeitgeber besonderes Interesse und schreibt darüber in seinem Memorandum: "Es gibt Tyrannei über die Industrie. Man sagt, daß in vielen Geschäften ein Nazikommissar eingesetzt worden ist. Dieser Kommissar wacht über die Geschäftsführung, um dafür zu sorgen, daß sie auf eine Art erfolgt, die den Ansichten der Nazipartei entspricht". Nach dem Hinweis, daß drei Direktoren seines Filialwerkes in Deutschland verhaftet worden seien und dem Vermerk, daß die Nazis "internationale Firmen mit Niederlassungen außerhalb von Deutschland" ganz und gar nicht gern sehen, kommt er auf den "Mai-Feiertag" zu sprechen und berichtet dem gleichfalls in seinem Land um das Los der Arbeiter besorgten Roosevelt: "Die großen Maifeiern aller bezahlt Arbeitenden in ganz Deutschland wurden auf Kosten der Arbeitgeber durchgeführt, indem die Regierung anordnete, daß die Arbeitgeber ihre Arbeiter am Maifeiertag bezahlen, trotz der Tatsache, daß die Arbeiter am Maifeiertag nicht arbeiten. Es wird gesagt, daß so etwas in Deutschland zum ersten Mal vorkommt". Nach Hinweisen auf die sozialen Aktivitäten der NSDAP faßt Fuller seinen allgemeinen Eindruck von der Lage in Deutschland wie folgt zusammen:

"Mein Eindruck ist der von einem Volke, das von einer geistigen Erhebung, die ihm neu ist, bis zur Selbstaufopferung bezaubert ist, die so intensiv nationalistisch ist, daß die Möglichkeiten, daß es sich durch Krieg selbst zerstört, etwa gleichstehen mit den Möglichkeiten des Erfolgs durch gemeinschaftliche Anstrengung im Innern; sowie der Eindruck von einem Volk, aus dem alle persönliche Freiheit, wie wir sie kennen, gewichen ist. Für uns scheint es auch so, daß Deutschland, ein Volk, das sich gern führen läßt, wieder ein marschierendes Volk ist, und also eine Gefahr."

Eine Charakteristik, die in ihrer Erkenntnisschärfe fast jeden Diplomatenbericht hinter sich läßt und die mit Recht von Roosevelt als "extremely interesting" bezeichnet und an das Außenministerium zur Lektüre weitergeschickt wurde.


 
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