© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/97  19. September 1997

 
 
Schottland: Referendums-Erfolg für die Befürworter eines eigenen Parlaments
Realpolitik im Geiste des Mythos
von Petra Schirren

Es ist kein übertriebenes Pathos, in der schottischen Volksabstimmung vom 12. September ein weithin leuchtendes Fanal zu sehen. Zu einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen von rationalistischen Mechanismen und Denkmodellen schier erdrückt fühlen und in der sich Politiker allzu leichtfertig dem Diktat tatsächlicher oder vermeintlicher ökonomischer "Notwendigkeiten" unterwerfen, mutet eine durch und durch von Gefühlen bestimmte Entscheidung wie die der Schotten für ein eigenes Parlament zutiefst anachronistisch an.
74,3 Prozent der Bewohner jenes rauhen Landes zwischen den Orkney-Inseln im Norden und dem Grenzfluß Tweed im Süden entschieden sich – bei einer Wahlbeteiligung von rund 60 Prozent – dafür, 290 Jahre nach der zwangsweisen Vereinigung des schottischen Parlaments mit dem englischen die Geschicke des Landes wieder stärker in die eigenen Hände zu nehmen. Die zweite Frage, in der es um ein begrenztes Entscheidungsrecht Edinburghs in Steuerangelegenheiten ging, wurde von 63,5 Prozent bejaht.
Daß das Resultat 1997 so viel anders aussieht als jenes des letzten Referendums dieser Art im Jahre 1979 hängt nur zum Teil mit dem entsprechenden Engagement des in Schottland aufgewachsenen Tony Blair und seiner Labour Party zusammen. Eine wesentlich größere Rolle spielte das Massenmedium Kino: Die cineastische Schottland-Welle, die in den Filmen "Rob Roy" und vor allem in "Braveheart" ihren Höhepunkt fand, hat ein ganzes Volk in eine anhaltende nationale Euphorie versetzt. Diese ging so weit, daß bei der letzten Fußball-Weltmeisterschaft der Trainer der schottischen Elf seinen Mannen vor der "Schlacht" gegen England das Hollywood-Epos "Braveheart" über den Freiheitskampf des von Mel Gibson eindrucksvoll gespielten Titelhelden William Wallace (um 1270–1305) vorführen ließ.

Es ist von höchst symbolhafter Bedeutung, daß der Referendumstag 11. September ausgerechnet auf den 700. Jahrestag des triumphalen Sieges der schottischen Truppen unter Wallace über die Engländer in der Schlacht an der "Stirling Bridge" gelegt worden ist. Die Macht des Wallace- Mythos fegte in der der Volksabstimmung vorangegangenen Diskussion alle Bedenken der Konservativen Partei und schottischer Wirtschaftskreise hinweg, so daß die Pro-Kräfte von Labour, Scottish National Party (SNP) und den Liberal Democrats leichtes Spiel hatten. Ob das aus schottischer Sicht erfreuliche Ergebnis langfristig das Land dem SNP-Ziel einer vollen Souveränität näherbringt, hängt von der konkreten Ausgestaltung der zugestandenen Rechte ab und davon, ob sich nun in England – als Reaktion auf die zunehmende Dezentralisierung der britischen Insel – ein nenenswerter eigener Nationalismus jenseits des "britischen" Bewußtseins herausbildet.

Zunächst sollen 1999 die ersten schottischen Wahlen stattfinden, damit sich zur Jahrtausendwende das neue Parlament auf dem Calton-Hill in Edinburgh konstituieren kann. Dabei sollen 73 von 129 Abgeordneten direkt und 53 nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt werden. Die "Schottische Exekutive", so der offizielle Name der zu bildenden Kammer, bekommt Entscheidungsbefugnisse u. a. für die Bereiche Kultur und Erziehung, Justiz, Kommunalverwaltung, Landwirtschaft, Wohnungsbau, Polizei, Verkehr, Gesundheitswesen, Sport und Tierschutz. Die Außen- und Verteidigungspolitik sowie weite Teile der Finanzen der britischen Insel werden weiterhin allein von London aus gelenkt. Der schottische Haushalt wird auch zukünftig vom gesamtbritischen abhängig sein, aus dem zuletzt alljährlich rund 14 Milliarden Pfund für den Nordteil der Insel aufgebracht wurden. Die am 11. September beschlossenen eigenen Steuerbefugnisse Edinburghs sollen demgegenüber nur einen Spielraum von etwa 400 Millionen Pfund haben.

Letzteres jedoch ist Zahlenwerk und als solches im Augenblick nachrangig: Die schottische Volksseele hat sich – im Geiste von "Braveheart" Wallace – von der Last einer fast drei Jahrhunderte währenden mehr oder weniger drückenden englischen Fremdbestimmung befreit. Fürs erste wird dies das Zusammenwirken von Schotten, Engländern und Walisern in einem britischen Staatswesen erleichtern, das nach dem 11. September ein anderes geworden ist.


 
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