© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/97  19. September 1997

 
 
Nationalbewußtsein: Keiner will den europäischen Einheitsmenschen
Keine Highlander-Romantik
von Andreas Mölzer

Die große Gefahr für unsere Welt, nicht zuletzt auch für Europa im ausgehenden 20. Jahrhundert, sei der Nationalismus, orakelten etablierte Meinungsmacher und Politiker vor wenigen Jahren, als der Ostblock zusammenbrach. Dieser Nationalismus sei sui generis böse, bringe Chauvinismus, Aggressivität, Imperialismus, Fremdenhaß und Rassismus mit sich. Ihn gelte es zu bekämpfen, zu unterdrücken. Für unsere Breiten sei eben die europäische Integration das approbate Mittel, solche dumpf-nationalistischen Gefühle zu überwinden.

Nun haben am nordwestlichen Rande Europas die Schotten am Donnerstag vergangener Woche in einem Referendum mit einer satten Dreiviertelmehrheit für die Schaffung einer eigenen Volksvertretung votiert – genau 290 Jahre nach der zwangsweisen Zusammenlegung des schottischen Parlaments mit dem englischen. Und allenthalben spricht man von einer Wiedergeburt der schottischen Nation.

Nun wissen wir zwar alle, daß Schottland eine Fußball-Nationalmannschaft besitzt und daß dort rauhe Gesellen in Tartan und Kilt bei Highlander-Festen herumspringen. Ähnlich wie die Lederhosen bei unseren Tiroler-Abenden. Kaum bewußt ist hierzulande allerdings, daß der englische Imperialismus die Schotten so radikal unterdrückt hat, daß sie sogar ihre keltische Sprache verloren haben. Und dennoch vermag dieses stolze Volk, das sogar seine sprachliche Identität eingebüßt hat, so etwas wie eine nationale Wiedergeburt zu erlangen.

Nationen sind Gedanken Gottes, meinten christlich motivierte Geschichtsdenker. Und Austromarxisten wie Otto Bauer sprachen von Nationen als "geronnener Geschichte". Sie bleiben, und das lehrt uns das schottische Beispiel, offenbar im sich integrierenden Europa des 21. Jahrhunderts der unverzichtbare Identifikationsrahmen für die Menschen.

Ethnopluralismus wird bekanntlich von den Großinquisitoren des Antifaschismus und der Political correctness als Kriterium für rechtsextremes Gedankengut bezeichnet. Ethnopluralismus, also die kulturelle und sprachliche Vielfalt wird aber nichtsdestotrotz auch im integrierten Europa der Zukunft ein zu bewahrendes und zu beschützendes, weil kulturell unendlich wertvolles Erbe der abendländischen Geschichte bleiben.

 

Die "britische Nation" wurde durch das Plebiszit ad absurdum geführt

Die Schotten haben uns dies bewiesen: Auch die europäischen Völker sind nicht bereit, in einem melting pot aufzugehen und ihre national-kulturelle Identität zugunsten eines EU-Eintopfes zu opfern. Die wie in Schottland immer wieder hervorbrechende Lebenskraft historisch gewachsener Nationen ist aber auch stärker als staatliche Konstrukte, die aufgrund machtpolitischer Verschiebungen in den letzten ein, zwei Jahrhunderten zustande kamen.

Eine "britische Nation", die im Interesse Londons Iren, Waliser und Schotten zwangseingemeindete, wurde durch das schottische Plebiszit ad absurdum geführt. Als ebenso wenig tragfähig könnten sich bei gegebenem Anlaß auch sehr spät konstruierte Nationen in unseren Breiten erweisen.

Nationales Pathos ist nur mehr etwas für Dritte-Welt-Despoten und für französische Politiker im Wahlkampf. So will es uns einerseits die Gesinnungsdiktatur der Political correctness weismachen, so entspricht es aber auch dem postmodernen Lebensgefühl einer überindividualisierten Generation.

Was die deutschsprachige Welt in Mitteleuropa betrifft, so verliert man nicht ungestraft zwei Weltkriege. Geringste Reparationszahlung ist da schon das Preisgeben der patriotischen Rhetorik. "Gloire" und "Grandeur" bleiben einzig den vermeintlichen oder wirklichen Siegern dieser beiden Weltkriege vorbehalten.

Diese scheinbare Abgeklärtheit, abhold jeglichem Nationalismus, ist allerdings nur Oberfläche. In den geistigen tiefen Schichten der Menschen, auch jener hierzulande, lauert der um Identität – auch nationale – ringende Selbstsucher, der potentiell Xenophobe, sein Revier verteidigende Wolf.

Gruppenbewußtsein, auf gemeinsamer Abstammung und Kultur fußende Identität ist dem Menschen offenbar unauslöschlich gegeben. Daran kann auch der herrschende Zeitgeist nichts ändern. Zumindest dies hat uns das schottische Lehrstück bewiesen.


 
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