© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/97  19. September 1997

 
 
Unternehmen Barbarossa: Kriegsmaterial kam der roten Armee zugute
Westhilfe für Stalin
von Jochen Arp

Am 23. Juni 1941, also einen Tag nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, erklärte der US-amerikanische Kriegsminister gegenüber Präsident Franklin D. Roosevelt: "Deutschland braucht höchstens drei Monate, um die UdSSR zu zerschlagen." Der Grund für die pessimistische Lagebeurteilung war, daß zwar Stalin bereits eine ungeheure Truppenkonzentration an der Grenze zu Deutschland veranlaßt hatte, doch die neu entwickelten Panzer und Flugzeuge noch nicht in ausreichendem Umfang in die Massenproduktion gegangen waren. Da nach Ansicht der US-Regierung unter Roosevelt der Sieg der Sowjetmacht über Deutschland im vitalen Interesse der USA lag, beschlossen die Vereinigten Staaten, der Roten Armee kurzfristig mit der Lieferung von Kriegsmaterial zu Hilfe zu kommen.

In der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschien im Oktober 1995 der Aufsatz eines der besten Kenner der Verhältnisse in Osteuropa, Peter Gosztony, dem Leiter der Forschungsstätte "Schweizerische Osteuropa-Bibliothek", zu der Frage: "Wie wichtig war die Westhilfe für Moskau im Zweiten Weltkrieg?" Gosztony hat die bis dahin verschlossenen Archive sowohl der ehemaligen Sowjetunion als auch seiner westlichen Verbündeten ausgewertet und tritt der verbreiteten Legende entgegen, die Hilfslieferungen der USA, Großbritanniens und Kanadas hätten keine wesentliche Bedeutung für den Ausgang des deutsch-sowjetischen Krieges gehabt.

Die führenden Kreise Amerikas waren bereits 1935 beunruhigt über die Weltereignisse und begannen, die Politik der amerikanischen Neutralität zu überprüfen. Mit dem Leih-und-Pacht-Gesetz vom November 1939 gaben sie Rüstungslieferungen an kriegführende Mächte frei, was ihnen bis dato durch das Neutralitätsgesetz verwehrt gewesen war. Die solcherart Begünstigten waren Großbritannien, Frankreich und die Sowj hatte, doch die neu entwickelten Panzer und Flugzeuge noch nicht in ausreichelgten diang in die Massenproduktion gegangen waren. Da nach Ansicht der US-Regierung unter Roosevelt der Sieg der Sowjetm Harry Hopkins – flog am 28. Juni 1941 nach Moskau, um mit dem sowjetischen Diktator über Hilfestellungen zu verhandeln. Noch war Stalin optimistisch.

Bald zeigte sich, daß ein erheblicher Prozentsatz der Bevölkerung der Sowjetunion die deutschen Truppen als Befreier begrüßte und daß die Rote Armee nicht die Kampfkraft entwickelte, die die kommunistische Führung erwartet hatte. So wurde am 1. Oktober 1941 ein Protokoll über anglo-amerikanische Lieferungen an die UdSSR unterzeichnet. Riesige Mengen an Rüstungsgütern sollten Stalins Armee zugute kommen. Als Transportwege wählte man die Eisenbahnlinie über Wladiwostok sowie die Schiffsrouten zu den Häfen Archangelsk und Murmansk. Das aber reichte nicht aus. Und so überfielen Sowjets und Engländer kurzerhand das neutrale Persien. Der nördliche Teil des Landes wurde durch die Rote Armee, Südpersien durch britische Truppen besetzt. Die neutrale persische Regierung wurde entfernt und durch ein Moskau und London genehmes Regime ersetzt. Somit war eine Landbrücke zwischen der Sowjetunion und dem britischen Herrschaftsbereich geschlagen.

Am 7. November 1941 erklärte Roosevelt: "Die Verteidigung der Sowjetunion ist identisch mit dem vitalen Interesse der USA." Man möge bedenken, daß zu jenem Zeitpunkt die USA auf dem Papier immer noch neutral waren: erst mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 traten sie offiziell in den Krieg ein. Britische und amerikanische Militär-
missionen fuhren nach Moskau, um zu erkunden, mit welchen Rüstungsgütern Stalin am ehesten geholfen werden konnte, während umgekehrt sowjetische Kommissionen in die USA reisten, um dort die entsprechenden Verhandlungen zu führen. Daß die Sowjets dabei die günstige Gelegenheit nutzten, um in den USA und Kanada ein ausgedehntes Spionagenetz zu errichten, sei am Rande vermerkt.

London übernahm es, die in der UdSSR 1941/42 aufgestellte kommunistische polnische Armee in einer Stärke von 100.000 Mann mit der notwendigen militärischen und nichtmilitärischen Ausrüstung zu versorgen. Die NZZ legt ein sowjetisches Dokument vom 12. Juni 1944 vor, in dem aufgelistet wird, daß die USA vom 1. Oktober 1941 bis zum 30. April 1944 an Moskau unter anderem folgendes geliefert hatten: etwa 9.000 Flugzeuge, 3.700 Panzer, 10 Minensuchboote, 82 Torpedoboote, 206.700 Lkws, 3.100 Pak-Geschütze, 1.111 Oerlikon Geschütze (offenbar zunächst von den USA in der Schweiz gekauft), 22.400.000 Granaten, 87.900 Tonnen Schießpulver, 1.200.000 km Draht für Feldtelefone, 245.000 Telefone, 5,5 Millionen Militärstiefel, 22.800.000 Yards Uniformstoff, 2 Millionen Autoreifen, fast 500.000 Tonnen Flugbenzin sowie über eine Million Tonnen Stahl.

Nicht alles war gleich gut geeignet für den Krieg in den Weiten Rußlands unter den dortigen klimatischen Verhältnissen. Die Sowjets hatten Probleme mit den leichten US-Panzern. "Die Motorisierung der sowjetischen Infanterie dagegen war außerordentlich erfolgreich. Zehntausende von Jeeps und 3,5-to-Lastwagen erleichterten die Verlegung von Truppen und Material von einem Kriegsschauplatz zu einem anderen enorm", so Peter Gosztony. Zu dem Kriegsmaterial kamen große Mengen von Weizen und anderen Lebensmitteln zur Versorgung der Roten Armee und der Bevölkerung.

Ab 1943 hatten die Sowjets an sich keinen Bedarf mehr an westlichen Hilfslieferungen, weil ihre Produktionszahlen in die Höhe geschnellt waren und sie sich selbst hätten versorgen können. Trotzdem lieferten die USA bis zum September 1945 weiter und trugen so dazu bei, daß nicht nur Ost- und Mitteldeutschland, sondern auch weitere Länder Europas von den Sowjets erobert wurden.

Nach dem Krieg weigerte sich Stalin, die von seinen westlichen Verbündeten gelieferten Güter als Schulden anzuerkennen. Großbritannien und Kanada strichen 1968 großzügig die Verbindlichkeiten, während die USA zwar einen Großteil der Hilfsgüter im Sinne der gemeinsamen Kriegführung als Geschenk abschrieben, jedoch eine Vergütung für die Lieferung ziviler Ausrüstungsgegenstände im Wert von 2,6 Milliarden Dollar verlangten. Der Kreml lehnte aber auch das ab.

1970 unterzeichneten die UdSSR und die USA ein Abkommen zur Frage, wie die vollständige Tilgung der sowjetischen Kriegsschulden in Höhe von 772 Millionen Dollar abgegolten werden kann; 146 Millionen Dollar wurden tatsächlich von Moskau bezahlt. Heute schuldet die Ex-Sowjetunion den USA auf dem Papier noch 674 Millionen Dollar für die Lieferung von Hilfsgütern, die Stalin den Sieg brachten.


 
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