© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/97  19. September 1997

 
 
Ausstellung: "Bohème und Diktatur in der DDR" im Berliner Zeughaus
Verriegelte und gestundete Zeit
von Thorsten Hinz

Hatte die DDR eine Bohème? Eine Substruktur, die sich – nach den gängigen Definitionen – dem Kollektivdruck zu entziehen versuchte, individuelle Spielräume erweiterte, programmatischen Individualismus auslebte und gesellschaftliche Zwänge unterlief, die sich durch Jargon und Kleidung von ihrer Um- und Väterwelt abgrenzte und künstlerisch produktiv war? Der Liedermacher Wolf Biermann, der im Rahmen der Ausstellung ein beeindruckendes Konzert gab, dekretierte: "Vonwegen Bohème in der DDR! Wie sollte man im Kleingarten des Politbüros der SED auf Bohème machen, wo jedes Radieschen numeriert an seinem Platz steht!"

Doch Biermann wurde 1976 ausgebürgert; das Leben ging danach weiter. Die Ausstellungsmacher jedenfalls widerlegen das Biermann-Diktum und widersprechen implizit auch jeden rigorosen Moralisten, die die unterschiedlichen Facetten der DDR-Kulturgeschichte allein auf die Stasi-Problematik verengen und bis dato ein weitgehendes Interpretationsmonopol behauptet haben.

Die in der Ausstellung durch Bilder, Typoskripte, Installationen, Texte, Bücher, aber auch Stasi-Berichte erinnerte Kulturszene hatte sich seit Anfang der siebziger Jahre, nach dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker, allmählich, breitgefächert, jenseits offizieller Realismuskampagnen und unterhalb staatlicher und offizieller Verbandsstrukturen herausgebildet. Die Vorbilder und Inspirationsquellen waren unterschiedlich: Da waren die "68-Bewegung" im Westen, die Beatniks und die Hippies. Man stützte sich auf Überbleibsel alter Bildungsbürgerlichkeit etwa in Leipzig und Dresden. Intensiv rezipiert wurde die Memoirenliteratur der französischen Bohème. Ateliers bildender Künstler wurden zu Treffpunkten; Kunst wurde zum Ausgangspunkt eines Lebenskonzepts außerhalb offizieller Normen. Die verfallenden, leergezogenen, labyrinthischen Altbauten in Berlin-Prenzlauer Berg, aber auch in den Stadtzentren anderer Städte vor allem im Süden der DDR-Städte gaben den morbidenRahmen ab, der nach außen hin die Transparenz für die Behörden einschränkte. Man malte, veranstaltete halbprivate Ausstellungen, Lesungen, Performances, schrieb experimentelle Literatur und betrieb Theaterprojekte. Kunst und Leben gingen ineinander über. Im Haus des Erfurter Schmuckgestalters Rolf Lindner wurde alljährlich ein "Fest der Collage" gegeben. Haupttopoi waren die Verfremdung des SED-Zentralorgans Neues Deutschland und von Honecker-Bildern. "Knackfrisch für Paris" hieß das Motto des Kreises, welches das Gefühl der verriegelten Zeit, nämlich das Vorenthalten der Reisefreiheit bis zum Rentenalter, bitter ironisierte. Andererseits lebte man auch in einer gestundeten Zeit, in der Geld und die Sorge um den Lebensunterhalt keine große Rolle spielte, man auf berufliche Karriere um den Preis der Anpassung verzichtete und als Friedhofsgärtner oder Platzanweiser arbeitete. Umso mehr Zeit blieb für die Kultivierung von Freundschaften, Lektüre, Diskussionen. Der moralische Obulus erlebte Ende 1989 einen gewaltigen, auch materiell meßbaren, Kursverlust.

Fragt man nach dem bleibenden künstlerischen Ertrag, dann überwiegt – natürlich– der Eindruck ephemerer Zweit- und Drittklassigkeit. Andererseits sind die künstlerischen Entwicklungen des Lyriker Durs Grünbein, des Schriftstellers Wolfgang Hilbig, des Malers A. R. Penck, des Regisseurs Leander Hausmann ohne das Szene-Biotop kaum denkbar. Auch die Mitglieder der Erfolgsband "Rammstein" waren als Mitglieder der Punk-Formation "Feeling B" Teil dieser Nischen-Kultur.

Die gesellschaftliche Wirkung ist schwer quantifizierbar, sie war aber vorhanden: Der halböffentliche ästhetische Gegenentwurf wurde zum Modell für einen Ausstieg aus einer unglaubwürdigen Gesellschaft. Zumindestens in Groß- und Universitätsstädten sah auch noch der verklemmteste FDJler mit einer Mischung aus Neugierde, Neid und Minderwertigkeitskomplexen auf den durch Verneinung praktizierten Freiraum. So war die Bohème durchaus ein Faktor der innenpolitischen Destabilisierung.

Doch nichts liegt der Ausstellung ferner, als Nostalgie zu vermitteln. Nicht bloß, weil die Stasi Gruppierungen und Aktivitäten durchsetzt, zersetzt oder gar simuliert hat. Die Ästhetisierung des Lebens forderte auch von den Ost-Berliner, Leipziger und Dresdener Bohémiens ihren Tribut: durch Wirklichkeitsverlust, Ghetto- und Inzuchtparanoia, dem Versiegen von Produktivität. Auf Dauer ließ sich die vermißte Reisefreiheit und Pluralität auch durch die raffinierteste Inszenierung nicht ersetzen. Irgendwann war das Spielmaterial verbraucht, der Kreis physisch, geistig und künstlerisch ausgeschritten. Viele der Protagonisten gingen schließlich in den Westen. Gerade das Schicksal der Bohème zeigt, daß die DDR keine lebbare Alternative war. Nachhaltig aber ist die Erfahrung der "Nische" als einer besonderen Kommunikationsform, in der sich Privates und Gesellschaftliches mischten und die durchaus eine Keimzelle von Kreativität war.

Bei der Ausstellungseröffnung fragte Museumsdirektor Stölzl mit Adorno, ob es ein richtige Leben im falschen der DDR gab. Für den Besucher eine ebenso müßige wie ignorante Frage. Und wenn man sie schon nötig hat, sollte man sie gefälligst auf das ganze Deutschland beziehen. Thorsten Hinz

 

Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, noch bis zum 16. Dezember täglich geöffnet, außer mittwochs, von 10 bis 18 Uhr. Eintritt frei. Der Katalog kostet 49,80 DM.


 
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