© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Eliten: Intellektuelle in Deutschland wenden sich gegen das "System Kohl"
Aus dem Traum erwachen
von Thorsten Thaler

Macht und Geist, Politiker und Intellektuelle verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser; sie sind – um ein Wort des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger zu bemühen – "seit eh und je miteinander verfeindete Indianerstämme". Ihre Wechselbeziehung spielt sich in dem Dreieck zwischen Sprachlosigkeit, gegenseitiger Verachtung und verbalen Attacken ab. Die einen sind "machtvergessen und machtversessen" (Richard von Weizsäcker), den anderen wird vorgehalten, sie fristeten ihr Dasein im Elfenbeinturm des Geistes.

Diese unter Intellektuellen weithin verbreitete Kunst, sich ins Abseits zu stellen, hat nach Ansicht des Journalisten und Politikwissenschaftlers Paul Noack zu einem bedauerlichen Defizit im politischen Leben geführt. Bereits in seiner 1991 erschienenen essayistischen Fallstudie "Deutschland, deine Intellektuellen" mahnte er die Rückkehr der Intellektuellen auf die Bühne der Politik an. "Nein, kein Überdruß und kein Unverständnis angesichts so manchen zeitgenössischen Disputen vermag die zugrundeliegende Einsicht zu zerstören, daß keine Gesellschaft eine funktionierende Intellektuellenschicht notwendiger braucht als die unsere, in Einheit verunheitlichte." Seine Aufforderung zum Tanz gipfelte in dem Plädoyer, die Intellektuellen müßten in einer Situation, in der die Probleme offen zutage, ihre Lösungen aber im Dunkel liegen, den Gefährdungen der Außen- und Innenwelt wieder "denkerische Gegengifte" entgegensetzen.

Als einer der ersten nahm diesen Ball der Schriftsteller Botho Strauß auf. Mit dem fulminanten Essay "Anschwellender Bocksgesang" setzte er im Frühjahr 1993 seine Hoffnung auf "einen tiefgreifenden, unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalität". Auf dem Weg dorthin müsse man nur wählen können, so Strauß, "das einzige, was man braucht, ist der Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream. Diese Demokratie benötigte von Anfang an mehr Pflanzstätten für die von ihr Abgesonderten". Strauß zeigte sich überzeugt, daß "die magischen Orte der Absonderung, daß ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems unerläßlich ist".

Mittlerweile haben auch andere Intellektuelle, so scheint es, die Weckrufe vernommen. Immer häufiger melden sie sich zu Wort, analysieren und widersprechen sie dem politischen Zeitgeist in Interviews, Aufsätzen und Büchern. Wie zum Beispiel Kurt Sontheimer. In einem Gastkommentar für die Berliner Morgenpost am 18. August schreibt der Politologe: "Das Modell Deutschland ist verblaßt. Man kann nicht einfach so weitermachen, wie wir es gewohnt waren. Doch wenn wir Tag für Tag verfolgen, was im öffentlichen Raum geschieht, dann herrscht der Eindruck vor, daß wir zu sehr in den überkommenen Vorstellungen, Orientierungen und Verfahren verharren, obwohl uns bewußt ist, daß wir uns auf Neues und Anderes einstellen müssen."

In der bundesrepublikanischen Gesellschaft, betont Sontheimer, fehle es an geistiger und politischer Dynamik, mangele es an dem Willen, "das Experiment zu wagen". Es bedürfe der Phantasie und Kraft zu einer positiven Antwort auf die jeweiligen Herausforderungen im Bildungswesen, beim Umbau des Sozialstaates oder in den politischen Parteien, die "nicht zum Bremsen, sondern zum verantwortlichen Gestalten berufen sind". Sontheimer: "Ein neuer politischer Geist ist gefragt, der Experimente nicht scheut und die lähmende, im Endeffekt doch nur scheinbare Stabilität der bestehenden Zustände überwindet."

Zustimmung erfährt Sontheimer von dem Historiker und Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg. In einem Interview mit dem Stern von voriger Woche konstatiert der heute 93jährige, es habe schon viele politische Krisen seit 1949 gegeben, aber keine sei so bedrohlich gewesen im Blick auf den damit verbundenen Reformstau. Als Ausweg schlägt Eschenburg eine Verlängerung der Wahlperiode auf sechs Jahre, die Reduzierung der Abgeordnetenzahl von jetzt 672 auf 300, eine Beschränkung der Mitspracherechte der Länder in der Bundespolitik und eine Änderung des Wahlrechts vor. "Ich bin sehr für ein Mehrheitswahlrecht. Da werden die Stimmen der Wähler in keiner Weise manipuliert." Das Verhältniswahlrecht sei ein Schutzrecht der kleinen Parteien und zwinge in der Regel zu Koalitionen, "die nur beschränkt handlungsfähig sind und in denen der Kanzler nicht wirklich die Richtlinien der Politik bestimmt".

Die umfassendste Kritik an den politischen Zuständen kommt dieser Tage von dem Politikwissenschaftler Arnulf Baring. Bereits im ersten Kapitel seines soeben erschienenen Buches "Scheitert Deutschland?" gibt Baring Tonfall und Stoßrichtung seiner Abrechnung mit den Hütern des Staus quo vor. Der Mittelstand schrumpfe, das Subventionswesen in Deutschland sei skandalös und die Innovationsfähigkeit des Landes sei erdrosselt worden; die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Jugendlichen, ist fatal, Überbürokratisierung lähme das Land, und unser Bildungswesen hätten wir verrotten lassen; die Gesellschaft vergreise, Politiker neigten zur Selbstüberforderung und dazu, "dem Gemeinwesen, der Gesamtheit der Bürger, zu große Verpflichtungen aufzuladen"; die Staatsfinanzen befänden sich in einer katastrophalen Lage, das Rentensystem stehe auf brüchigem Fundament, und im Krankenversicherungswesen explodierten die Kosten.

Die politische Klasse, prophezeit Baring, schaufele sich ihr eigenes Grab, wenn sie weiterhin Erwartungen in der Bevölkerung wecke, denen sie "nie und nimmer gerecht werden kann". Die Deutschen müßten sich eine Mentalität aneignen, ein persönliches Verantwortungsgefühl entwickeln, "das sie von Natur aus nicht besitzen, weil die preußische Tradition, dann die erfolgreiche Einigungspolitik Bismacks den Staat derart in den Vordergrund geschoben hat. Doch es hilft nichts", resümiert Baring, "die staatliche Lenkbarkeit der Konjunktur, die Modellierbarkeit der Industriestrukturen, eine von daher garantierte, großzügige Sozialstaatlichkeit, sind liebgewordene, aber falsche Prämissen, von denen wir uns unter dem Druck der neuen Realitäten rasch trennen müssen".

Zur Einwanderungsproblematik notiert Baring: "Wenn irgendjemand in der weiten Welt beschließt, nach Deutschland zu gehen, um sich hier niederzulassen, darf dieser Entschluß für unseren Staat keinesfalls ausreichen, dem Einreisenden vorerst für Jahre, dann für Jahrzehnte, materielle Versorgung, Bleiberecht und gar Einbürgerung zuzugestehen." Eine Einwanderungspolitik, die diesen Namen verdiente, müsse sich "an den Interessen unseres Landes orientieren und daher, wie in allen anderen Einwanderungsländern, Quoten vorsehen und dabei nach Herkunftsländern, Gesundheitszustand, Geschlecht, Alter, kulturellem Hintergrund, Sprachkenntnissen und Berufserfahrungen differenzieren".

Die "vielleicht menschenfreundliche, vielleicht auch nur gedankenlose Sentimentalisierung unserer Politik", schreibt Baring weiter, könne an keinem anderem Thema so deutlich festgemacht werden wie an der Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland. Jede vernünftige Diskussion darüber sei durch "die frei erfundene, diffamierende Dauerbehauptung, wir Deutschen seien als solche ausländerfeindlich, im Keim erstickt worden". Eine sachliche Erörterung dieses Tabus lasse noch immer auf sich warten. Doch gerade beim Ausländerthema schrecke man davor zurück, "den Konsequenzen der Wirklichkeit ins Auge zu blicken".

Baring: "Deutschland ist ein Einwanderungsland wider Willen geworden. Das Gefühl, künftig nicht im eigenen Land das Sagen zu haben, beunruhigt die Deutschen. (…) Auf solche Prüfungen ist unser Land nicht vorbereitet. Doch man sieht in England, Frankreich und anderen europäischen Demokratien, in welchem Umfang die Einwanderung soziale Krisen heraufbeschworen und nationalistischen Parteien wie der Le Pens in Frankreich Auftrieb gegeben hat. Niemand darf glauben, daß uns bei massivem Ausländerzustrom und zunehmender Wirtschaftskrise Konflikte und Krawalle erspart bleiben."

Wenn die Deutschen nach dem Ende des "Wohlfahrtstraums" wieder auf die Beine kommen wollten, meint Baring, müsse sich eine fundamentale Veränderung des öffentlichen Bewußtseins vollziehen. "Wer das sieht und fordert, muß allerdings wissen, daß man ihm inhumane Hartherzigkeit und soziale Unsensibilität vorwerfen wird. Wer immer bei uns auf unbequeme Tatsachen hinweist, riskiert sofort, wegen seiner schlechten Gesinnung angeprangert zu werden – als ob die Tatsachen sich nach den Gesinnungen richteten, zu richten hätten."

An anderer Stelle schreibt Baring: "Man wird sagen, weil der existierende Sozialstaat als links gilt, müsse, wer sein Ende konstatiere, notwendig politisch rechts rechts sein. Aber der Einwand wird nicht durchschlagen, weil ihm die Fakten widersprechen." Und er zitiert Machiavelli mit dem Satz: "Der größte Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile bezog."

In einem ausgewogenen wie gleichermaßen fundierten Abschnitt über die Europäische Währungsunion kommt Baring zu dem Schluß, das Gemeinschaftsprojekt widerspreche "offenkundig unseren nationalen Interessen". Die Währungsunion sei zum jetzigen Zeitpunkt ein viel zu waghalsiger Sprung. "Völlig überflüssigerweise" führe der Euro zu innenpolitischen Turbulenzen, zu einer "Unterminierung des Stabilitätsgefühls" der Bevölkerung.

Die Politik habe von Anfang an, schreibt Baring, die psychologische Bedeutung der DM-Abschaffung "sträflich unterschätzt". "Unsere Währung ist nicht nur ein Zahlungsmittel, sondern zugleich Grundlage unseres Selbstvertrauens." Die Deutschen seien nicht auf ihre Geschichte, kaum auf ihre Kultur, weitgehend aber auf ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stolz. "Deshalb dürfte man bei uns eher das Grundgesetz aufgeben als die gegenwärtige Währung", schätzt der Politikwissenschaftler die Gemütsverfassung der Deutschen ein. Für die Demokratie sei es daher gefährlich, wenn Regierungs- und Oppositionsparteien die Bevölkerung weiter "mit Floskeln abspeisen, die zum Teil ganz offenkundig falsch sind".

Baring kritisiert, daß der Euro von seinen Befürwortern als "Allheilmittel für alle Gebrechen" gepriesen werde, die uns in Deutschland zu schaffen machten. Es würden "großartig klingende, visionäre Vorhaben propagiert, statt die täglichen Hausaufgaben ordentlich zu machen". Die Bundesregierung solle in Deutschland "mutig Ordnung schaffen, statt uns zusätzliche Risiken und vermeidbare Probleme aufzuhalsen", fordert Baring eine Neugewichtung deutscher Politik.

Die Debatte um neue Politik-Konzepte und einen Bewußtseinswandel befruchten könnte auch das neue Buch der beiden rechtsintellektuellen Publizisten Heimo Schwilk und Ulrich Schacht, die bereits 1994 als Herausgeber des Sammelbandes "Die selbstbewußte Nation" für ein vielstimmiges Medienecho gesorgt hatten. In ihrem vom Langen Müller Verlag, München, für Oktober angekündigten Buch "Für eine Berliner Republik" schreibt Schwilk: "Ob die Berliner Epoche eine neue Phase politisch inkorrekter, also realitätsorientierter Aufklärung bringt, steht zu vermuten, hängt aber mittelfristig mit der Entwicklung der Parteienlandschaft zusammen, die nach rechts zementiert bleiben dürfte, am linken Rand und in der Mitte taktische Manöver, aber keine Neugründungen bringen wird." Trotz seiner Skepsis, daß "der Bonner Geist des Aussitzens und des Sowohl-als-Auch" die Amtsgeschäfte der künftigen Berliner Regierung noch eine Zeitlang prägen werde, gibt sich Schwilk frohgemut: "die Strahlkraft des Ortes, die Kraft seiner historischen Erinnerung und die Dynamik zuströmender Geschäftigkeit" werden allmählich ihre Wirkung entfalten. Dann könne die Berliner Republik vielleicht einmal als Synonym für "glückhaftes nationales Selbstbewußtsein" gelten.


 
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