© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Porträt: Henning Voscherau
Sproß eines Schauspielers
von Martin Otto

Gab es, in letzter Zeit eher die Regel als die Ausnahme, bundespolitischen Streit bei den Sozialdemokraten, war er einer der Landespolitiker, die sich als Schlichter anbieten wollten; unter dezentem Verweis auf seinen erlernten Beruf erklärte Hamburgs Erster Bürgermeister, Henning Voscherau, seine Partei bedürfe eines Notares.

Voscherau wurde 1941 in Hamburg als Sproß einer Schauspielerfamilie geboren; der Vater war unter dem Künstlernamen Scherau bekannt. Nach dem Jurastudium erlangte er recht bald das in Hamburg schwer zugängliche und lukrative Amt eines Notars. Seit 1966 ist er SPD-Mitglied. 1974 erstmals in die Hamburger Bürgerschaft gewählt, wurde er 1987 Fraktionsvorsitzender. 1988 wählte die in heillose Flügelkämpfe zerstrittene Hamburger SPD, die mit einer Ausnahme sämtliche Nachkriegsbürgermeister vorzeitig abservierte, ihn zum Nachfolger des glücklosen Klaus von Doh-nanyi zum Ersten Bürgermeister der Hansestadt. Regierungserfahrung sammelte der dem rechten Parteiflügel zugerechnete Voscherau mit wechselnden Partnern; zunächst in einer Koalition mit der FDP, nach einem persönlichen Wahlsieg 1991 in einer SPD-Alleinregierung, seit 1993 in einer bis heute andauernden Koalition mit der außerhalb Hamburgs nie von Bedeutung gewesenen Statt-Partei. Rot-grünen Bündnissen vermochte er, trotz bestehender Mehrheiten und eines starken linken Parteiflügels, bislang geschickt auszuweichen.

Für die kommende Bürgerschaftswahl wird mit sozialdemokratischen Verlusten gerechnet. Mit einem Wahlkampf, der die SPD als law and order-Partei zu profilieren sucht, will Voscherau einer Stimmabwanderung nach rechts vorbeugen, frei nach seinem selbstgewählten Grundsatz "Treibe niemals kleine Leute in die Arme der Rechtsextremisten". Das sagte Voscherau bereits im Landtagswahlkampf 1993 und kritisierte mit Blick nach links "Halbherzigkeiten in der Einwanderungspolitik und gegenüber Mißständen wie Drogenhandel".

Der Schauspielersohn Voscherau, der sich kaufmännisch-seriös gibt, verfügt freilich über eine große Wandlungsfähigkeit. Sie ermöglichte es ihm, auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg 1995 über das sicher gehaltvolle Thema "Freie und fröhliche Hansestadt" zu reden, in Hamburger Kirchen zu predigen und gleichermaßen für die "Gedenkbücher der Jugendweihe in Hamburg und Sachsen" anerkennende Grußworte zu verfassen. Gelingt dem konfessionslosen Kanzelredner Voscherau der Spagat zwischen engagiertem Protestatismus und atheistischen Weihefeiern mit einiger Leichtigkeit, dürfen die Wähler gespannt sein, zu welchen Leistungen der "leidenschaftliche Taktierer" nach der Bürgerschaftswahl fähig sein wird. Um eine Erklärung wird der hanseatische Notar nicht verlegen sein.


 
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