© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Medien: "Multikulturelle Gesellschaft" im Blickfeld
Gefährliche Fundis
Meinungsbeitrag von Stefan Lorenz

Ein Gespenst geht um in Deutschland: das Gespenst des "gefährlichen Fremden". Nachdem selbst der Spiegel in einer Titelgeschichte bereits im April das "Scheitern der multikulturellen Gesellschaft" konstatiert und Focus Ende Juli sich selbst und seinen Lesern die Frage "Gefährliche Ausländer?" gestellt hatte, hat in letzter Zeit nun auch das Fernsehen (arte, SFB und zuletzt die ARD am 3. September) die "Überfremdung" als Thema entdeckt.

Im Gegensatz zu früher wurde in der Berichterstattung ein recht rauher Ton angeschlagen und reißerisch geschildert, wie "brisant die Lage wirklich ist." Und in der Tat sind die Fakten bedenklich: Da streben islamische Kämpfer mitten in Deutschland den Aufbau eines "Gottesstaates" mit all seinen Begleiterscheinungen (barbarisch anmutende Bestrafungen für Rechtsbrecher, dem Tierschutzgesetz zuwiderlaufende Schlachtriten, "Beschneidungen" von Mädchen etc.) an. Auch im Alltag häufen sich vor Ort die Probleme: eine hohe Arbeitslosigkeit und ungewisse Zukunftsperspektiven sind kennzeichnend für die Situation der in Deutschland lebenden Ausländer. Ihr Anteil an der Schwerstkriminalität ist erschreckend hoch. All diese Fakten werden in den Medien nun offen beim Namen genannt. Die Idee, in Deutschland eine separate islamische Identität aufzubauen, erscheint ihnen, früher gefeiert, heute schon fast suspekt. Es werden sogar Türken mit der Forderung vorgestellt, türkische Eltern, die ihre Kinder islamisch erziehen wollen, sollten doch besser in die Türkei zurückkehren.

Das eigentlich Bemerkenswerte besteht aber nicht in den geschilderten und dokumentierten Gegebenheiten. Diese sind inzwischen wohl jedem, der vorurteilsfrei mitten im Leben steht, aus eigener Erfahrung wohlbekannt. Auffallend ist eher, daß auch in den Massenmedien mittlerweile in einer Art und Weise über dieses Thema berichtet wird, die vor noch nicht allzu langer Zeit geeignet gewesen wäre, in der Öffentlichkeit "Betroffenheit" auszulösen. Wie läßt sich diese Entwicklung erklären? Wird Friedbert Pflüger demnächst die Feststellung treffen können, daß Deutschland nicht nur an den Stammtischen, sondern auch multimedial "nach rechts driftet"?

Diesbezügliche Befürchtungen oder Hoffnungen, sollte jemand sie hegen, sind sicher unangebracht. Natürlich kommt es immer wieder vor, daß man einstige Einstellungen aus persönlichen Erfahrungen heraus überdenkt. Dies ist anzuerkennen, da es ein Zeichen von Mut ist, sich zu seinen Irrtümern zu bekennen. Dennoch kann die "Wandlung" auch andere Ursachen haben. Ein Medium, das Menschen mit Informationen versorgt, ist darauf angewiesen, von seinen Konsumenten und Kunden als glaubwürdig anerkannt zu werden. Verliert dieses Medium seine Glaubwürdigkeit, verliert es seine ökonomische Basis. Kein Medium kann es sich auch leisten, Themen, die die Massen bewegen, unbeachtet zu lassen. Die Aufrechterhaltung des Prinzips der Schweigespirale im Hinblick auf die Ergebnisse der anvisierten multiethnischen Gesellschaft wird daher zunehmend problematischer, von ihrer offenen Propagierung als gesellschaftspolitischem Ideal ganz zu schweigen.

Propaganda, die von ihrer Zielgruppe ohne Schwierigkeiten als unwahr erkannt werden kann, wirkt absolut kontraproduktiv und richtet sich gegen denjenigen, der sie betreibt. In den Genuß dieser Erfahrung, die ein Sudel-Ede bereits in der einstigen DDR hatte machen dürfen, würden zweifellos auch bundesrepublikanische Print- und Funkmedien kommen. Möglicherweise ist das einer der Gründe für die Offenheit der Berichterstattung.

Welche Problemlösungen bieten die Medien an? Die Haupttendenz geht dahin, nicht etwa den mit der "Multikulturellen Gesellschaft" zusammenhängenden Problemen durch eine Drosselung des sie betreffenden Aufbauprogramms zu begegnen, sondern paradoxerweise durch dessen Verstärkung. So zitieren etablierte Medien alle naselang CDU-Politiker wie Heiner Geißler ("Deutschland ist ein Einwanderungsland") oder Soziologen wie Wilhelm Heitmeyer, der sich für eine "erleichterte Einbürgerung" ausspricht. Was dadurch aber gewonnen werden soll, wird nicht näher erläutert. Lernen die rund 40 Prozent der ausländischen Schulkinder, die in Berlin bei ihrer Einschulung die deutsche Sprache nur unzureichend bis überhaupt nicht beherrschen, denn besser Deutsch, wenn sie bei ihrer Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit zuerteilt bekommen? Oder werden jene jungen "Deutschtürkinnen", die jetzt allenthalben als gelungene Beispiele für eine Assimilation vorgestellt werden, größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, nur weil sie, in westlichem Chic gewandet, kopftuchlos auftreten? Wohl kaum.

Auch durch die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft, die ohnehin häufig nur aus Gründen juristischer Vorteile angestrebt wird, vergrößern sich die Integrationschancen nicht automatisch. Die Türkei bleibt aus der Sicht auch der hier geborenen Türken weiterhin der eigentliche kulturelle Bezugspunkt. In einigen Jahren wird man erleben, daß auch jenes Konzept einer verstärkten Einbürgerung versagt hat und die Probleme dieselben geblieben sind. Welche Lösungsmodelle werden Politiker und Massenmedien der danach dürstenden Bevölkerung dann unterbreiten?


 
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