© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Krise Deutschlands: Intellektuelle sorgen sich um die Zukunft
Tanz auf dem Vulkan
von Martin Otto und Dieter Stein

Deutschland im Herbst: Nach einem Sommertheater, das alles bislang Dagewesene in den Schatten stellte, hat der Alltag die Bonner Politik wieder. Für den Beobachter ist dies ohne Belang: Entscheidungen erwartet man in dieser Legislaturperiode ohnehin nicht mehr. Mit Ermüdung nimmt man den soundsovielten Anlauf in der Steuerdebatte zur Kenntnis. Die Erfolglosigkeit scheint vorprogrammiert.

Was tut eine Regierung, die nicht mehr in der Lage ist, Entscheidungen zu fällen? Sie simuliert Politik. Was tut eine Regierung, der die Probleme über den Kopf wachsen? Es werden Konflikte produziert, die bequemer zu handhaben und bei der Mini-Erfolge zu präsentieren sind. Die Regierung Kohl brachte das Produzieren von Konflikten in diesem Sommer zu einer so traurigen Perfektion, daß selbst die letzte, hauptsächlich von den Sozialdemokraten veranstaltete, Sommervorstellung im Bonner Zirkus dagegen in Vergessenheit zu geraten droht. Die Debatte um eine Kabinettsumbildung, nutzlos wie ein Kropf, vom Zaun gebrochen ohne Sinn und Verstand, tat ein übriges, die Bonner Regierung gegenüber einer Opposition ins Hintertreffen zu bringen, deren einzige Stärke die Schwäche der Regierung Kohl ist. An akuten Problemen ist zwar kein Mangel, doch die Bundesregierung scheint sich mit der Sturheit eines Panzers auf Kohls letztes Ziel eingefahren zu haben: die Verwirklichung eines europäischen Bundesstaates um jeden Preis.

Die Einführung der Europäischen Währungsunion ist zur Staatsräson der Regierung Kohl geworden. Alles wird von ihr abhängig gemacht. Differenzen mit der Opposition bestehen in dieser Frage überhaupt nicht, im Gegenteil. Schon das seit Monaten andauernde Gewurstel um eine Steuerreform läßt sich nur vor dem Hintergrund erklären, in Deutschland mit größtmöglichem Konsens um jeden Preis fragwürdige Kriterien für eine noch fragwürdigere Währungsunion zu erfüllen. Das "wozu?" dieser Währungsunion ist leicht zu durchschauen: Die politisch Verantwortlichen in Bonn ahnen, daß sie mit Einführung der Währungsunion alle Sorgen los sind, politische Verantwortung für die wirtschaftlichen Folgen zu übernehmen. Die Verhandlungen um eine Steuerreform wirken wie Scheingefechte mit Sollbruchstellen. Neu ist jetzt nur, daß selbst in der Sommerpause das Theater fortgesetzt wird. Offenbar besteht ein Bedürfnis, kontinuierlich Tatendrang zu simulieren. Das Lösen tatsächlich eklatanter Probleme wird unterlassen; mit seinen selbstgemachten Problemen kennt man sich wohl besser aus.
"Noch müssen nationale Probleme auf nationaler Ebene gelöst werden"
An Aufgaben für Politiker fehlt es nicht. Noch müssen nationale wirtschaftliche Probleme auf nationaler Ebene gelöst werden. Für die schlechte wirtschaftliche Lage muß auch die nationale Regierung geradestehen. Ist einmal der Euro da, kann man getrost die Schuld für Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Verschuldung, Rekordpleiten an Brüssel delegieren.
Und die Lage wird ernster – allen Schönrednereien zum Trotz verschärft sich die wirtschaftliche Situation:
Der Haushalt ist wackelig wie nie zuvor. Neuen Steuerschätzungen zufolge muß Finanzminister Theo Waigel mit einem weiteren Loch von zehn Milliarden rechnen, wovon auf Länder und Gemeinden fünf Milliarden entfallen. Die Konsequenz daraus: Da nun endgültig die Neuverschuldung die Summe staatlicher Investitionen übersteigen wird, muß die Bundesregierung die Störung des Gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes verkünden. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Zehntausende von Lehrstellen fehlen. Es herrscht ein Lehrstellenmangel wie Anfang der achtziger Jahre, und die Lehrstellenzahl sinkt kontinuierlich. Im August 1996 boten die Arbeitsämter 571.200 Lehrstellen an, 17.500 weniger als im Vorjahr. Die Zahl der Jugendlichen, die Lehrstellen suchen, ist stattdessen im gleichen Zeitraum um 52.600 auf über 750.000 gestiegen. Bei der ohnehin schwerfälligen Bundesanstalt für Arbeit (BfA) sind 152.000 Jugendliche gemeldet, die eine Lehrstelle suchen.

Die Zahl der Pleiten erlangt ungeahnte Ausmaße. Betrug die Anzahl der Insolvenzen im ebenfalls krisengeschüttelten Jahre 1980 im alten Bundesgebiet lediglich 9.140, 1990 bereits 13.271, so wurde 1995 ein Spitzenwert von 21.714 erlangt. Rechnet man noch die 7.071 mitteldeutschen Insolvenzen hinzu, kommt man für 1995 auf 28.785 Konkursverfahren. In über 16.000 Fällen mußte die Konkurseröffnung mangels Masse abgelehnt werden. In Mitteldeutschland hat sich die Zahl der Konkursverfahren im Zeitraum 1992 bis 1995 von 1.185 auf 7.071 fast versiebenfacht.

Die Zahl der Negativrekorde ließe sich beliebig fortsetzen. An Rekordarbeits- losigkeiten, die Weimarer Verhältnisse in den Schatten stellen, hat man sich wohl längst gewöhnt. Ein Ende ist nicht absehbar. Der sogenannte "Ruck", der durchs Lande gehen müsse, bleibt aus, je mehr er beschworen wird. Bis zur nächsten Bundestagswahl ist Bonn gewillt, weiterzumachen wie gewohnt. Bis dahin soll die Debatte um die Einführung des Euro alle Probleme überlagert haben. Eine fromme Hoffnung Kohls? Die Hamburger Wahlen dürften zeigen, ob diese Absicht von der Mehrheit der Wähler geteilt wird.

 

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