© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/97  05. September 1997

 
 
Ex-Prostituierte Alice Frohnert im JF-Gespräch: Männer, Gewalt, Kirche, Krebsgeschwüre
"Eine morbide Gesellschaft"
von Manuel Ochsenreiter

Prostitution soll als "normaler" Beruf anerkannt werden. Das verlangt zumindest die Selbsthilfeorganisation "Hydra". Was halten Sie davon?

Frohnert: Prostititution ist auf keinen Fall "Normalität" im herkömmlichen Sinn. Sie ist der Horror. Auch mit dem Begriff "Beruf" muß man vorsichtig sein. Bei der Prostitution in ihrer heutigen Form kann man nicht von "Beruf" sprechen. Es ist Zerstörung, und wenn man daraus einen Beruf machen will, dann ist das Gewalt…

…und was ist Ihr Ziel?

Frohnert: Die Prostituierte hat generell die Funktion einer Therapeutin oder einer Ärztin. Und ihre Arbeit ist – symbolisch – mit der Operation eines Unfallopfers zu vergleichen. Was sie macht, ist gesellschaftlich sehr wichtig, und sie hilft dem Menschen, daß er sich organisch besser fühlt. Sie tut etwas, was sie im Grunde anekelt. Sie hat aber weder das Prestige noch das Einkommen eines Arztes. Zudem sind die Frauen meist auch sehr klug. Sie könnten mit den Betroffenen Gespräche führen. Die Finanzierung könnte über die Krankenkasse erfolgen oder über Spenden.

Das klingt alles sehr hypothetisch. Gab oder gibt es ein Projekt, das diese "Art" der Prostitution getestet hat oder testet?

Frohnert: "Hydra" hat so ein ähnliches Projekt gemacht. Da wurden die Kunden mit "Sie" angesprochen und sie mußten die Prostituierten auch mit "Sie" ansprechen. Es gab keinen Eingriff in die Intimsphäre, und die Frauen stellten sich nicht mit Pseudonymen vor, sondern nannten ihre richtigen Namen wie zum Beispiel: "Sie werden jetzt von Frau Maier behandelt…".

Es beginnt also schon bei der Anrede?

Frohnert: Ja, die Sprache ist sehr wichtig. Wenn eine gemeinsame geistige Ebene vorhanden ist, dann ist das "Du" völlig in Ordnung. Doch bei der Prostitution gibt es keine gemeinsame Wellenlänge. Dort wirkt das "Du" abwertend. Das gilt im übrigen nicht nur für den Kunden, sondern auch für die Prostituierte.

Insofern also doch wieder eine "normale" Dienstleistung?

Frohnert: Insofern ja. Ich kann ja auch nicht zum Zahnarzt gehen und ihn mit "Du" ansprechen. Das wäre ja eine Anmaßung. Man muß Respekt haben vor dem anderen Menschen. Das gilt auch für die Prostitution.

Ist die Prostitution ein Indikator für gesellschaftliche Entwicklungen?

Frohnert: Ja! Die Prostitution ist heute ein Krebsgeschwür einer morbiden Gesellschaft. Dieses Geschwür nimmt gerade in Krisenzeiten enorm zu. Sie ist heute ein Indikator für eine Gesellschaftsstruktur, die krank ist.

Wir befinden uns heute in einem Auflösungsprozeß von Werten und Normen. Viele in einem intakten Umfeld sich selbst regulierende Dinge werden einfach "erkauft". Ist Prostitution nicht letztendlich mehr als nur Sex, sondern auch "Fastfood für Zuneigungsbedürftige"?

Frohnert: Im gewissen Sinn ja. Die Leute, die kommen, sind nicht alle sexsüchtig. Der überwiegende Teil ist einfach kommunikationsunfähig. Es sind Männer, die nicht in der Lage sind, normal eine Frau anzusprechen und durch eine richtige Beziehung darauf zu warten, daß sich eine sexuelle Atmosphäre entwickelt. Heute wirken Dinge wie Fernsehen und Computer an der Anonymisierung mit. Das heißt, uns werden Gefühle immer mehr amputiert. Man hat Angst vor Gefühlen, weil man oft enttäuscht worden ist. Die Frustrationsgrenze ist sehr niedrig. Auf der anderen Seite muß man sagen, daß wir zum Teil noch immer in einer "Männerwelt" leben. Vor allem auf dem Land, wo Institutionen wie Katholizismus und Kirche als zusätzliche Gewalt wirken. Die Erziehung hat sich nur in privilegierten Kreisen geändert…

…wobei die Kirche und gerade der Katholizismus doch diejenigen Werte vermitteln sollen, die Dinge wie Prostitution gar nicht "notwendig" machen.

Frohnert: Aber das ist nicht die Realität! Bei intelligenten Menschen spielt eine Erziehung zur Ethik vielleicht eine Rolle, aber nicht bei der Basis. Die vor allem von der Kirche vermittelte Ethik ist nur ein moralischer Überbau, unter dem es fault. Die Kinder werden von klein auf amputiert und unterdrückt.In ihrer Erziehung müssen Werte wie die Aufklärung und ein liberales Menschenbild eine Rolle spielen. Sie müssen zu Menschen erzogen werden, nicht zu Frauen oder Männern…

…also genau die Vorstellungen, denen wir den heutigen, "morbiden" Zustand zu verdanken haben!

Frohnert: Das ist heute aufgesetzt und überzogen. Das ist Pseudo-Progressivität! Auch diese Scheinheiligkeit in der Gesellschaft der Prostitution gegenüber ist Pseudo-Progressivität…

…und erklären Sie sich so auch die Tatsache, daß ausgerechnet seit der "sexuellen Befreiung der Frau" der 68er, Gewalt gegen Frauen und die Pornographie überdimensional zugenommen haben?

Frohnert: Genau. Wir haben momentan eine gesellschaftliche Stagnation. Wir haben auch keine Innovation, keine Ideen. Die Tragik ist, daß sich nichts bewegt. Ich denke, deshalb reden wir heute auch noch immer von irgendwelchen Leuten, die früher vielleicht up-to-date waren, aber heute nicht mehr aktuell sind. Wie Che Guevara zum Beispiel.

Was muß sich ändern?

Frohnert: Was mich ärgert, ist, daß, egal ob es um Emanzipation oder Prostitution geht, die eigentliche Problematik immer verdeckt wird. Man macht es sich immer zu einfach. Das muß sich zuerst ändern!

Was heißt das genau am Beispiel der Prostitution?

Frohnert: Menschen sagen: "Prostitution ist normal, warum nicht? Die Frauen verdienen und die Kunden sind befriedigt." Aber das ist nicht so. Das ist einfach eine sehr oberflächliche Sichtweise, die als Progressivität verkauft wird, die aber sehr gefährlich ist. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen und im Grunde auch eine Kritiklosigkeit und eine Nichtinformiertheit.

Was heißt das für die Zukunft?

Frohnert: Das beginnt bei der Erziehung. Kinder müssen in Richtung Authentizität erzogen werden, zu richtigen Persönlichkeiten. Heute verstecken sich die Jugendlichen in Szenen. Sie vertreten nicht sich selber, sondern übernehmen Parolen und Ideen von Menschen, deren Bücher sie gar nicht gelesen haben. Es sind schwache Persönlichkeiten.

Was ist Ihr persönliches Widerstandskonzept gegen unsere gesellschaftliche Entwicklung?

Frohnert: Wir müssen wieder lernen, mit Verlusten und emotionalen Verletzungen fertig zu werden. Als meine Magisterarbeit das erste Mal abgelehnt wurde, habe ich auch nicht aufgegeben. Gesundes Selbstvertrauen ist das beste Rezept. Wir haben ein von der Natur gegebenes Urvertrauen, welches wir zulassen müssen. Eine ganzheitliche Erziehung ist wichtig, die dieses Naturvertrauen unterstützt und nicht irgend eine Ideologie!


 
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