© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/97  29. August 1997

 
 
Urteile im Politbüro-Prozeß: Siegmar Faust wendet sich gegen den Kampfbegriff "Siegerjustiz"
"Zum Duckmäusertum erzogen"

Interview mit Siegmar Faust, Fragen: Gerhard Quast

Herr Faust, Sie waren in DDR-Gefängnissen inhaftiert und haben sich später für DDR-Häftlinge eingesetzt. Verspüren Sie angesichts der Urteile im Politbüro-Prozeß gegen Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber eine gewisse Genugtuung?

Faust: Ja, das kann ich durchaus bejahen, denn es kann nicht sein, daß nur die kleinen Befehlsempfänger zur Rechenschaft gezogen werden, es müssen auch die Auftraggeber und Schreibtischtäter bestraft werden. Das hat aber durchaus nichts mit Rachegefühlen zu tun, schließlich müssen sie nicht die Haftbedingungen ertragen, die sie uns zugemutet haben. Zwischen den Haftbedingungen in der DDR und denen der Bundesrepublik besteht ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Außerdem ist die Strafe ja auch nicht so hoch, wie die Staatsanwaltschaft forderte, obwohl man jetzt noch gar nicht spekulieren kann, weil das Urteil noch kein endgültiges darstellt, denn beide Seiten, Angeklagte wie Staatsanwaltschaft, gehen in Berufung. Insofern sind das immer noch alles Spekulationen. Trotzdem glaube ich, daß Krenz, Kleiber und Schabowski auch bei einer Berufung nicht ganz straffrei davonkommen. Aber ich muß auch zugeben, daß ich gespalten bin, denn Schabowski ist beispielsweise nicht mehr der, als der er heute bestraft wird. Er ist ein anderer Mensch geworden. Er hat wirklich – im echt christlichen Sinne – eine Bekehrung vom Saulus zum Paulus erlebt. Und da tut mir ein solches Urteil schon ein bißchen leid, auch angesichts dessen, daß er sich einigermaßen anständig verhält, bei der Aufklärung des Systems mithilft und nicht von "Siegerjustiz" faselt, wie Egon Krenz, dieser Betonklotz, der für mich Symbol der reaktionärsten Kräfte darstellt, die wir heute in Deutschland haben. Schabowski hingegen hat unmittelbar nach dem Zusammenbruch der DDR ernst gemacht, nicht erst als ihm ein Verfahren und Haft angedroht wurde.

Auch andere sprechen im Zusammenhang mit den Prozessen von "Siegerjustiz". Für wie legitim halten Sie denn diese Strafverfolgung durch bundesdeutsche Gerichte?

Faust: Wissen Sie, es wird alles mögliche geschwätzt und spekuliert und jeder kann seine Meinung sagen. Aber wie selbst Schabowski zugeben mußte, es war ein faires Verfahren. Aber nicht alle sind zu Reue und Einsicht fähig. Bei Kleiber hat man auch das Gefühl, der windet sich raus, aber man merkt, daß er auch betroffen ist und etwas dazugelernt hat. Bei Krenz hingegen Fehlanzeige. Und daß nun verschiedene Kreise, die selbst belastet sind und Amnestie wollen, Partei ergreifen für Krenz, und in diesem Zusammenhang von "Siegerjustiz" faseln, ist doch verständlich. Das ist ihr Klassenkampfjargon, den sie immer noch nicht ablegen konnten. Sie vergessen dabei vollkommen, daß sie durch das Volk hinweggefegt wurden, daß das ganz demokratische Wege sind, die nun zu dem Urteil führen. An der Rechtmäßigkeit der Urteile gibt es nichts zu rütteln. Ob man nun mit dem Urteil im Ergebnis einverstanden ist, die Strafe für zu gering oder zu hart empfindet, darüber kann man natürlich streiten, aber das Verfahren ist ein ausgiebiges Verfahren gewesen, manchmal sogar zu ausgiebig. Aber lieber das, als die berühmten Schnellgerichtsverfahren, wie jene üblen Schnellverfahren, daß Menschen mitten im Frieden ohne Anhörung, ohne Verteidigung einfach quasi standrechtlich an der Mauer erschossen werden. Das ist das Hauptverbrechen dieses Systems, das war systemimmanent.

Krenz betonte auch, die DDR sei nicht nur Unrechtsstaat und die Bundesrepublik nicht nur Rechtsstaat gewesen.

Faust: Natürlich gibt es auch zwischen englischem und amerikanischem Recht Unterschiede, aber man kann nicht eine Diktatur auf eine Stufe mit einem demokratischen Rechtssystem stellen. Das ist schon eine Frechheit. Ich kann auch mit der Bundesrepublik unzufrieden sein, ich kann die Urteile kritisieren, ich kann schimpfen, ich kann auch auswandern, wenn mir etwas nicht paßt. Das alles konnte ich nicht in einer Diktatur, wie die DDR eine war. Diese grundsätzlichen Unterschiede zwischen einer Diktatur und einer Demokratie zu verwischen, das sind die billigen Tricks, auf die leider immer wieder viele reinfallen. Natürlich gibt es graduelle Unterschiede zwischen einer brutalen stalinistischen Diktatur und einer mehr moderaten Diktatur. Aber wenn eine Diktatur in Bedrängnis kommt, kann sie sich brutal über Menschen hinwegsetzen, wie es die Kommunisten immer schon gemacht haben. Was Herr Krenz betreibt, ist eine willentliche Begriffsverwirrung.

Der Begriff "Siegerjustiz" unterstellt, daß die Sieger über die Besiegten richten. Provozieren solche Urteile nicht eine Solidarisierung der Menschen mit den Verbrechern von damals?

Faust: Das ist leider möglich und wird auch weidlich ausgenutzt. Man kann Menschen, die 40 Jahre verblödet wurden, die entfremdet wurden, die sich keine eigene Meinung bilden und nicht widersprechen konnten und stattdessen zu Duckmäusertum und Untertanenmenschen erzogen wurden, nicht so schnell ändern. Gott sei dank hat es nicht perfekt funktioniert, sonst wäre das System nicht von innen heraus gestürzt worden. Aber die Mehrheit wurde eben hineingezogen, denn wenn eine Diktatur so lange anhält, kann auch der Widerstand nicht ewig anhalten, man will ja leben und seine besten Jahre nicht nur in Resignation verbringen. Also hat man versucht, sich durchzumogeln, hat sich auch belastet und folglich ein schlechtes Gewissen. Deshalb kommt es durchaus zu Solidarisierungen mit den jetzt "Verfolgten". Diese geistige Verwirrung, die zu Zeiten der DDR angerichtet wurde, macht sich heute die PDS zunutze. Daß es sich bei diesen Solidarisierungen um psychisch-menschliche Schwächen handelt, habe ich damals bei meiner Ausreise in den Westen selbst an mir feststellen können. In dem bunten Westen habe ich mich auch manchmal einfach zurückgesehnt in das grau-in-grau, in die Übersichtlichkeit und das Vertraute. Aber das wichtige ist doch die Gedankenfreiheit. Das ist es, was ich in meinen Lehrjahren im Westen erst richtig begriffen habe. Aber ich verstehe natürlich auch meine Landsleute, ich verstehe deren Gefangenschaft in diesen geistigen Klischees, weil ich selbst einmal ein Gefangener war.

Kürzlich erschien ein Solidaritätsaufruf, in dem "die unverzügliche Einstellung der politischen Strafverfolgung von DDR-Bürgern" gefordert wird. Gibt dieser Aufruf eine verbreitete Stimmung in den neuen Ländern wieder?

Faust: Der Aufruf gibt schon eine gewisse Stimmung wieder. Das merke ich hier in Sachsen. Die Menschen sind noch sehr unsicher, die Vielfalt und Buntheit des Westens empfinden immer noch viele als bedrohlich, das verstehe ich. Ich selbst habe fünf Jahre gebraucht, um mit dieser bunten Welt einigermaßen zurecht zu kommen. Ich habe immer nach der Wahrheit gesucht, aber der eine sagte dies, der andere das. Das habe ich lange nicht verstanden – bis ich begriff, daß der Streit die Grundlage der Demokratie ist. Bis zu dieser Erkenntnis braucht es seine Zeit. Viele Menschen sind eben noch nicht soweit. Und das nützt die PDS eben aus und instrumentalisiert diese Stimmung im Volk. Da hilft eben nur die Aufklärung, anzukämpfen gegen das Vergessen. Deshalb muß genau analysiert werden, wie es damals war: Wie haben sich die Menschen untereinander bespitzelt, wie haben sie aber auch als Notgemeinschaft zusammengehalten. Dabei helfen uns die SED- und Stasi-Akten.

Wie sieht es eigentlich mit den vielen IMs und Spitzel im Westen aus? Werden diese mit dem gleichen Nachdruck verfolgt?

Faust: Die meisten werden wahrscheinlich davonkommen, ohne daß sie entdeckt werden. Es wird allenfalls Zufallsfunde geben, deshalb werden die meisten auch in Zukunft ruhig schlafen können. Aber die Spitzel sind meiner Meinung nach gar nicht die schlimmsten, viel schlimmer waren die reaktionären Ideologen im Westen, die immer behauptet haben, "der Geist steht links". Erstens weht der Geist, und zweitens wo er will.

Welche Tat wiegt schwerer, die der Verantwortlichen, die den Schießbefehl gegeben haben, oder die der Befehlsempfänger, die wehrlose Menschen an der Grenze erschossen haben?

Faust: Natürlich die der Schreibtischtäter und Ideologen, die zu Haß und Feindbildern erzogen haben, die Lehrer, die Geschichtsbuchschreiber, und was da alles dieser Diktatur zugearbeitet hat. Deshalb wäre es ungerecht, wenn man nur die gerichtlich verfolgt, die als letztes Glied abgedrückt haben. Das waren oft Menschen, die gar nicht groß reflektieren konnten. Die DDR war ein teufliches System. Während Phrasen von "Antifaschismus" und "Nie wieder Krieg" heruntergeleiert wurden, wurde selbst in Friedenszeiten ein Krieg im eigenen Land gegen Andersdenkende geführt. Das muß doch einmal komplex aufgearbeitet werden, um den Scheinidealismus dieser Verbrecher entlarven zu können.

Bisher konnte leicht der Eindruck entstehen, die Mauerschützen werden verfolgt, während man die Schreibtischtäter laufen läßt?

Faust: Wissen Sie, die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit dauert eben lange. Während man jedoch die unmittelbar Beteiligten, den Mauerschützen, schneller aburteilen kann, muß man bei den Befehlsgebern erst lange Befehlsstrecken zurückverfolgen. Das dauert alles seine Zeit. Der Spruch "Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen", schien durchaus Berechtigung zu haben, aber mittlerweile wird das ausgeglichen, seit Leute wie Streletz und nun auch Krenz verurteilt sind. Sicher sind auch Fehler gemacht worden, wie zum Beispiel der kaum zu entschuldigende Kompromiß im Einigungsvertrag, der das DDR-"Recht", das nie Recht war, als Recht anerkannt hat. Daß dann Mittätern wie Markus Wolf, der eigentlich hinter Gittern gehört, oder Gewinnler dieses Systems wie Schalck-Golodkowski oder Wolfgang Vogel frei herumlaufen können, ist nicht unbedingt befriedigend. Das sind schon Hauptverantwortliche, aber sie werden ihrer verdienten Strafe entgehen. Aber mein Beruf ist nicht strafen zu wollen, mein Beruf ist – durchaus rückwärts gewandt – zu versuchen, die Vergangenheit auszuleuchten, im "Dreck" zu wühlen und denen "Flankenschutz" zu leisten, die sich berufen fühlen, die Zukunft gestalten zu wollen.


 
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