© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Historikerstreit: Daniel Goldhagen durch US-Kollegen demontiert
"Tricksereien und Betrug"

von Werner Olles

Mit der spektakulären These vom deutschen Volk als "Hitlers willige Vollstrecker" hat der US-Politologe Daniel Jonah Goldhagen (38) ein Vermögen gemacht und gleichzeitig der Geschichtswissenschaft einen Bärendienst erwiesen. Gelobt und gewürdigt von einschlägigen Autoritäten wie Jan Philipp Reemtsma und Jürgen Habermas, erhielt der Autor im März dieses Jahres auch den Demokratiepreis der vormals SED-gesponserten Blätter für deutsche und internationale Politik.

Nun hat der amerikanischer Politologe Norman Finkelstein, dessen Eltern selbst im Warschauer Ghetto, in Maj-danek und Auschwitz waren, das Goldhagen-Buch einer akribischen Analyse und vernichtenden Kritik unterzogen. Ganz im Gegensatz zu Goldhagens "willigen Vollstreckern" Reemtsma und Habermas nennt Finkelstein das Werk ein "Nicht-Buch" und "eine Schändung der Erinnerung und Wahrheit".

Finkelstein, der als Palästina-Experte an der City University von New York und der New Yorker University lehrt, veröffentlichte seine Abrechnung mit Goldhagen in der Juli/August-Ausgabe der angesehenen Londoner Literaturzeitschrift New Left Review. Finkelstein findet in dem Goldhagen-Buch massenhaft "Verdrehungen", "Mißdeutungen","Widersprüche","Tricksereien"und"absurden Erklärungsmischmasch" und läßt seine Kritik an dem "befremdlichen" und "nutzlosen Buch" schließlich in dem deutlichenSatz gipfeln: "Es ist einfach Betrug."

Was das "Phänomen Goldhagen" so beachtenswert mache, schreibt Finkelstein, sei die Tatsache, daß sein Buch "überhaupt keine wissenschaftliche Studie ist"; sein Werk sei "als Forschungsarbeit wertlos".

Norman Finkelstein hat sich mit seiner gründlichen Analyse und den mutigen Attacken auf den Lieblingsstar des linksliberalen Ostküsten-Establishments eine Menge Feinde gemacht. Während sich Goldhagens Fan-Gemeinde strikt weigert, seine Untersuchung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, intervenierte der Meister selbst, als in der Uni-Zeitung von Harvard – wo Goldhagen gern den Lehrstuhl für Holocaust-Forschung besetzen würde – ein Aufsatz über die Finkelstein-Untersuchungen erscheinen sollte.

Mehrere Magazine lehnten das Manuskript des renommierten Palästina-Forschers kurzerhand ab und auch die altehrwürdige New York Times sah keinen Bedarf, einen Beitrag zu publizieren, der so gar nicht in ihr linksliberales Konzept paßte. Aber Finkelsteins fünfzig Seiten starker Text – laut Spiegel "klar argumentierend und dicht mit Belegen durchsetzt" – ist offenbar so brisant, daß eine baldige deutsche Übersetzung wünschenswert ist, um auch hier allzu grobschlächtigen "Vergangenheitsbewältigern" den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Kam Goldhagens Buch gerade jenen entgegen, die den aufklärerisch-progressiven Geschichtsunterricht von Pädagogen der 68er-Generation genossen und verinnerlicht hatten, so dürften Finkelsteins Richtigstellungen gewiß dazu beitragen, daß manche junge Historiker die Zeit vor 1945 doch etwas vielschichtiger wahrnehmen, als es ihre Tiefkühlinquisition bislang zuließ. Modische Vereinfachungen von den "ganz gewöhnlichen Deutschen" als "ganz normale Judenmörder" – mit denen Goldhagen eine ganze Nation insultierte – hätten es dann vielleicht ein bißchen schwerer, und die Normalisierung deuscher Geschichtsdebatten käme etwas schneller voran.

Dies müßte keinesfalls eine "Entsorgung" der deutschen Geschichte von den Schrecknissen des Nationalsozialismus bedeuten. Viel eher würde eine solche "Normalisierung" bewirken, daß die Deutschen – genau wie andere Völker – sich zu einer ehrlichen und bewußten Identifizierung mit den Opfern und den Tätern durchringen könnten, wie der Philosoph Bernard Willms bereits 1968 dem deutschen Juden Theodor Wiesengrund Adorno schrieb, nicht ohne anzumerken: "Alles verstehen heißt vielleicht, alles verzeihen, aber das Ganze begreifen, heißt deshalb nicht, alles rechtfertigen."


 
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