© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Kino: "Mrs. Dalloway" von Marleen Gorris nach einem Literatur-Klassiker
Keine Angst vor Virginia Woolf

von Thorsten Hinz

London 1923. Die zweiundfünfzigjährige Clarissa Dalloway bereitet sich auf den Empfang vor, den sie abends in ihrem eleganten Haus für die Upper class geben wird. Die Arrangement der Tafel, die Anprobe der Garderobe, Stickereien, Einkäufe – es sind alltägliche Handgriffe, die ihren Tag ausfüllen. Dabei schweifen ihre Gedanken zurück in die Jugendzeit, als der junge Peter Walsh sie umschwärmte und heiraten wollte, ihre übermütige Freundin Sally sie mit einem Kuß verwirrte und sie schließlich den charismatischen Richard Dalloway heiratete, einen hohen Beamten; sie lieben sich nach wie vor. Kontrapunktisch dazu wird der junge Septimus Warren Smith vorgestellt, den seine Kriegserlebnisse in Alpträume versetzen, aus denen ihn auch seine besorgte italienische Frau nicht erlösen kann.

Unterdessen erhält Clarissa überraschenden Besuch von Peter Walsh, der eben aus Indien zurückgekehrt ist. Mit ihm verbinden sie nach wie vor starke, auf Gegenseitigkeit beruhende Gefühle. Auch das Verstreichen der Zeit wird ihr bewußt. Als Leitmotiv ertönt durch den Film der Glockenschlag vom "Big Ben". Beim abendlichen Empfang ist Peter der ironischer Beobachter, während Clarissa bravourös die konventionellen Pflichten der Gastgeberin erfüllt. Die Konventionen geben ihr (und den anderen) Halt und Stütze; sie sind der Kompromiß, der das Gleichgewicht zwischen ihrer Innen- und der absurden äußeren Welt ermöglicht. Gleichwohl bleibt das Leben ein Tanz über dem Abgrund, der sich auch auftut, als Clarissa auf der Party vom Selbstmord des jungen Smith erfährt.

Nach Peters Meinung sei man in der Jugend zu unruhig, um die Menschen zu kennen. Jetzt, wo man alt sei, könne man beobachten und verstehen, ohne die Fähigkeit des Gefühls zu verlieren. So hat auch das Altern seine gute Seite.

Diese Parabel über das Verfließen der Zeit, die Kluft zwischen Schein und bittersüßem Sein, über Leben und Vergänglichkeit, geht auf den gleichnamigen Roman von Virginia Woolf zurück, der neben den Werken von Joyce und Prousts zu den Klassikern der Moderne gehört. Die englische Regisseurin Marleen Gorris hat aus der Vorlage ein Kinoerlebnis ersten Ranges gemacht.

Eine hervorragende Kamera, die geschmackvolle Ausstattung und der überzeugende Schnitt bereiten die Bühne für den Auftritt der großartigen Schauspieler: Jeder der Figuren ist mehrdimensional, mit Licht- und Schattenseiten angelegt und hat ihr ganz persönliches Geheimnis. Rupert Graves als Smith, Alan Cox und Michael Kitschen als junger beziehungseise alter Peter Walsh überzeugen ebenso wie Natasha McElhone als junge Clarissa. Vor allem aber ist Vanessa Redgrave zu nennen, die der reifen Misses Dalloway ein unverwechselbares Profil gibt und das Changieren zwischen Melancholie und Stärke, zwischen Lebenshunger und der schmerzhaften Einsicht in Versäumtes ausdrückt. Es ist nicht allzu häufig, daß eine Schauspielerin im Alter der 1937 geborenen Redgrave noch eine tragende Film-Rolle bekommt. Schade eigentlich, muß man nach diesem Film sagen, denn ihr filigranes Spiel stellt so ziemlich alles in den Schatten, was man üblicherweise von hochgejubelten Stars und Sternchen auf der Kino-Leinwand sieht. Man muß bis zu Ingrid Bergman in "Herbstsonate" vor zwanzig Jahren zurückdenken, um Vergleichbares zu finden.


 
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