© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Alternativen
Kolumne
von Klaus Motschmann

Weitreichende Entscheidungen der politischen Klasse werden in zunehmendem Maße damit begründet, "das Rad der Geschichte" ließe sich nicht anhalten, bestimmte Entwicklungen seien inzwischen "unumkehrbar" und daß es demzufolge "keine Alternativen" zur jetzigen Politik gebe – insbesondere im Blick auf die Zukunft des als "Standort D" gekennzeichneten multikulturellen Siedlungsgebietes zwischen Rhein und Oder und schon gar nicht im Blick auf die Neuordnung Europas.

Eine derartige Argumentation erheischt Respekt. Sie dokumentiert die Fähigkeit, den Sinn der Geschichte vollgütig zu erkennen und danach politisch zu handeln. Da verbietet sich jeder Zweifel, jeder Widerspruch, erst recht jede Kritik und jeder Protest gleichsam von selbst. Und wo er hier und dort doch geübt wird, kann er als Don Quichotterie abgetan werden. Es muß nicht immer nur die Faschismus-Keule geschwungen werden; es gibt auch sublimere und insofern wirksamere Formen der Durchsetzung politischer "correctness".

Nun ist diese Argumentation mit dem "Rad der Geschichte", zu dem es keine Alternativen geben soll, so neu nicht. Im Gegenteil: Sie gehört zum Standardrepertoire jeglicher Politik, die sich nicht an der geschichtlich gewachsenen Wirklichkeit orientiert, sondern an den eigenen oder fremden ideologischen Zwangsvorstellungen von einem vermeintlich gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte. Es bedarf keiner besonderen geschichtsphilosophischen Ausführungen, sondern eines nur einigermaßen intakten Erinnerungsvermögens, um sich der narkotisierenden Wirkung dieser "Argumentation" zu entziehen. Wie oft in der Geschichte, vor allem in der jüngeren Geschichte, ist das "Rad der Geschichte", die "Unumkehrbarkeit" bestimmter politisch-ideologischer Entscheidungen, die Verheißung eines neuen, endgültigen Zustandes behauptet und geglaubt worden – und wie ganz anders ist die Geschichte verlaufen.

Was ist etwa aus der "Unumkehrbarkeit" der Teilung Europas geworden. Hat es keine "Wende" gegeben, was doch wohl das Gegenteil von "Unumkehrbarkeit" ist?! Und warum soll es keine weiteren Wenden, vor allem: wirkliche Wenden, geben – vielleicht erst nach zwanzig oder dreißig Jahren? Wir sollten mit dieser Möglichkeit fest rechnen, damit wir auf derartige Entwicklungen vorbereitet sind und nicht abermals so hilflos reagieren wie 1989: "Wer hätte das gedacht?". Denken wir also rechtzeitig daran!


 
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