© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Rußlands Hauptstadt: Momentaufnahmen aus Moskau 1989 und im Jubeläumsjahr 1997
Alltagsgesichter im Wandel der Zeit

von Hansjörg Müller

Ende 1989. Ein Nachmittag. Menschenmassen bewegen sich über die Straßen der Hauptstadt der Sowjetunion. Im Stadtteil um die Metrostation "Straße von 1905" – die Bezeichnung erinnert an die erste Revolution gegen den Zaren – herrscht der typische sowjetische Alltag: graue Häuser, graue Ladenfassaden fast ohne Werbung und Lichtreklamen sowie graue Menschen, deren Gesichter von einem entbehrungsreichen Leben gezeichnet sind. Der größte Farbtupfer sind die Abertausende junger bis mittelalter Frauen, die durch ihr Modebewußtsein und ihre weibliche Ausstrahlung dem gesamten Straßenbild eine angenehme Note geben.

An der Ecke am kleinen Park, gegenüber vom großen Warenhaus, stehen ein paar heruntergekommene Kioske. Das Warenhaus selbst offenbart an seinen Türen ungeahnte Fortschrittlichkeit. Die dort angegebenen Öffnungszeiten, 8–20 Uhr, werden in Deutschland bis heute nicht erreicht. Um so trister sieht es dagegen hinter dem Eingang aus: Berge an Eispickeln, Topfdeckeln, Flitterkram und sonstigem, nutzlosen Zeug, bloß nichts davon, wovon die sowjetische Durchschnittsfamilie wirklich etwas gebrauchen könnte. Die herumstehenden Verkäuferinnen teilen sich in zwei Gruppen: Die einen, ganz Teil der Alltagslethargie, zucken gequält lächelnd mit den Schultern, wenn sie nach utopischen Waren wie Waschpulver und Fisch gefragt werden. Die anderen, die zufällig Nützliches wie zum Beispiel Heizöfen und Regenschirme anzubieten haben, nutzen ihre Macht über die Schlange stehenden Menschen gnadenlos aus. Wer sich ihrer Arroganz nicht beugt, kriegt nichts.

Wer es sich leisten kann, geht über die Straße zu den besagten Kiosken. Dort gibt es, neben viel Alkohol, qualitativ normale Textilien und Haushaltsgeräte zu kaufen – zu gepfefferten Preisen. Dahinter bieten Bauern und fliegende Händler, für einige Rubel mehr als im Lebensmittelgeschäft, alle Grundnahrungsmittel an. Diese sind zwar teurer, aber oft auch qualitativ besser. Darüber hinaus muß man hier nicht der Verkäuferin hinten hineinkriechen, um ein Pfund Butter zu bekommen.

Der westliche Besucher, der genug gesehen hat, geht nun am Rande des kleinen Parks entlang und durch zwei dunkle Querstraßen bis an das Ufer der Moskwa, von wo er, trotz allem, einen erhebenden Blick auf die Flußfront des "Dritten Rom" genießen kann. Von dort läßt er sich für 50 Rubel billig mit dem Taxi in sein Hotel fahren. Vorher hatte er gewinnbringend seine Devisen schwarz in die Landeswährung umgetauscht.

In der Gegenwart. Der westliche Besucher wiederholt seine Tour von damals. Bloß beginnt er sie da, wo er beim letzten Mal aufgehört hat: In seinem Hotel. Der Liftboy hatte ihn schon vorgewarnt, aber daß er für die paar Kilometer bis ans Ufer der Moskwa dem Taxifahrer 20 Dollar zahlen soll, geht ihm über die Hutschnur. Auch eine Bezahlung in Rubeln hilft nicht weiter. Nachdem es inzwischen eine offizielle Devisenbörse gibt, lohnt sich der schwarze Geldumtausch kaum noch. Statt 20 Dollar kann der Fahrgast auch gerne 100.000 Rubel bezahlen, was dem Kurs an der Börse entspricht.

Vom Flußufer geht er die zwei dunklen Querstraßen hinauf. Sie sind noch genauso grau wie früher, was er auch versteht, da sich Veränderungen immer erst an zentralen Punkten bemerkbar machen, bevor sie in Seitenstraßen überschwappen. Doch, welch sonderbares Treiben findet an der einen Haustüre statt? Er bleibt solange stehen, bis er weiß, warum hier so viele schöne Mädchen ein- und ausgehen. Ein Bordell hat aufgemacht und bringt die Prostitution, die es auch schon zu Sowjetzeiten massenhaft, aber versteckt gegeben hatte, ans Tageslicht.

Die Kioske, die früher an der Ecke am kleinen Park standen, mußten weichen. Das Haus dahinter ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ein neues, großes Portal mit vorgelagerter Terrasse lädt Hungrige zum Besuch einer bekannten US-Restaurantkette mit dem schottischen Namen ein, die hier ihre x-te Moskauer Filiale eröffnet. Angesichts der Wahnsinnspreise, die in den guten Restaurants für ein normales Mittagessen verlangt werden (ab 30 Dollar) eine gar nicht so uninteressante Alternative. Bauern und fliegende Händler sind weniger zu finden, nachdem das Anbebot in den Geschäften um vieles besser geworden ist (und der lange Arm der Mafia auch die letzte Konkurrenz vernichtet hat, um die Preise hochzuhalten).

Der westliche Besucher steuert das Warenhaus an. Von außen ist der Anblick zwiespältig. Über dem Eingang gibt es, wie auch an den Nebengebäuden, neue Lichtreklamen. Der ganze Vorplatz ist bei weitem nicht mehr so grau wie früher. Die Eingangstüren sind aber noch die gleichen, und auch die Öffnungszeiten haben sich nicht geändert. Als sich die Verkaufshalle vor ihm auftut, traut er seinen Augen nicht. Der ganze Mangel von damals – einfach vorbei. Aus den gleichen Regalen, in denen einst Eispickel herumgammelten, lachen ihn die modernsten, westlichen Erzeugnisse in breiter Auswahl an. Nur bei den Preisen vergeht sogar ihm das Lachen. Soviel zahlt er nicht einmal in New York. Wie sich ein normaler Russe mit einem Durchschnittsgehalt von 200 Dollar das leisten können soll, wird ihm auf ewig ein Rätsel bleiben.

Jetzt schaut er sich auch die Leute genauer an. Im Warenhaus selbst kann er, anders als früher, kaum einen Rentner ausmachen. Auf der Straße sieht er sie dann, noch grauer als damals, weil sie sich seitdem keine neue Kleidung mehr leisten konnten. Auffallend daneben die exquisit gekleideten Neureichen in ihren Ledermänteln und Lackschuhen, die sich von ihrem Chauffeur bis vor das neue englische Pub fahren lassen.

Die Gesichter der großen Masse aber sind nicht weniger gezeichnet als früher, eher im Gegenteil. Nur gut, daß die tragende Schicht der russischen Gesellschaft, die Frauen, auch weiterhin mit ihrer Weiblichkeit das Auge des westlichen Besuchers erfreuen.


 
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