© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Soziales Jahr - Ökologisches Jahr: Viele Jugendliche sind bereit zum Dienst an der Allgemeinheit
Das Prinzip "Freiwilligkeit" ist zukunftsfähig

von Gerhard Quast

Gib ein Jahr" – Unter dieser Devise stand ein an junge Christen gerichteter Aufruf des Rektors der Diakonissenanstalt Neuendettelsau aus dem Jahre 1954, der "die evangelische weibliche Jugend" dazu aufforderte, ein Jahr ihres Lebens für andere Menschen zur Verfügung zu stellen und Dienst in der Gemeinde zu tun. Diese Idee eines Freiwilligendienstes wurde recht bald von anderen evangelischen Landeskirchen und schließlich 1958 mit der Aktion "Jugend hilft Jugend" auch von der Katholischen Jugend aufgegriffen. Letztere wollte damals mit dazu beitragen, das Elend der aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen in den Flüchtlingslagern zu lindern.

1963/64 folgten dem Beispiel der Kirchen auch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege: das Deutsche Rote Kreuz, der Internationale Bund für Sozialarbeit, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und die Arbeiterwohlfahrt. Aber erst mit dem vom Bundestag 1964 verabschiedeten "Gesetz zur Förderung des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ)" schlägt die eigentliche Geburtsstunde des auf soziale Belange beschränkten Freiwilligendienstes für Jugendliche zwischen 17 und 25 Jahren (heute 17 bis 27).

Seither leisten unter dem Motto "Ein Jahr für andere – ein Jahr für Dich" Jahr für Jahr mehrere tausend Jugendliche beiderlei Geschlechts in sozialen Einrichtungen Dienst für die Allgemeinheit. Im laufenden Jahr sind dies nach Angaben des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, in dessen Zuständigkeitsbereich das FSJ fällt, mehr als 8.100 Freiwillige, die in Krankenhäusern, Altersheimen, Behinderteneinrichtungen, Kindertagesstätten und Frauenhäusern mithelfen, alten Menschen bei den täglichen Arbeiten zur Hand gehen oder geistig und körperlich Behinderten das Leben ein bißchen erträglicher gestalten.

Weit weniger bekannt ist die Möglichkeit, in einem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ) Dienst für die Allgemeinheit zu tun. Grundlage dafür war ein 1987 gestarteter Modellversuch des Landes Niedersachsen mit 32 Teilnehmern. Die guten Erfahrungen in der Erprobungsphase mündeten 1993 in einem Bundesgesetz "zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres". Die Möglichkeit zur Ableistung eines FÖJ wurde von den einzelnen Bundesländern jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt. Während Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sehr zügig die Voraussetzungen zur Umsetzung des Gesetzes schufen, haben Bayern, Bremen und Nordrhein-Westfalen erst 1995 entsprechende Einrichtungen anerkannt. Hamburg und Rheinland-Pfalz führten das FÖJ sogar erst im vergangenen Jahr ein. Seither gibt es in allen 16 Bundesländern für Jugendliche zwischen der Vollendung des 16. und des 27. Lebensjahres die Chance, ein FÖJ abzuleisten. Derzeit absolvieren etwa 1.100 Jugendliche (1994: 600) ein FÖJ, der überwiegende Teil in den neuen Bundesländern und in Niedersachsen, das über die längste Erfahrung verfügt.

Die Jugendlichen werden dabei in Vogelschutzstationen, Naturschutzzentren, auf ökologischen Bauernhöfen, in Umweltämtern oder Nationalparks eingesetzt. Die Arbeit gestaltet sich entsprechend vielfältig und ist von Einsatzort zu Einsatzort verschieden: Es werden Biotope eingezäunt und gepflegt; Ställe ausgemistet, Populationszählungen, Archivierungen und Katalogisierungen durchgeführt, Kartierungen vorgenommen, Krötenwanderungen "betreut", wissenschaftliche Projekte unterstützt, Grünflächen angelegt, Kinderfreizeiten organisiert und Aufklärungskampagnen begleitet.

Zwar gilt weder für das FSJ noch für das FÖJ das Leistungsprinzip, aber besondere Leistungen werden den Jugendlichen trotzdem abverlangt. Und dies zu Bedingungen, für die viele nicht einmal einen Finger rühren würden: Gestellt wird in den meisten Fällen eine Unterkunft und die erforderliche Arbeitskleidung, manchmal auch die Verpflegung. Hinzu kommt ein "angemessenes Taschengeld", das in der Regel einige hundert Mark im Monat nicht überschreitet. Trotzdem finden sich immer mehr Jugendliche dazu bereit, im Rahmen eines FSJ/FÖJ zwölf Monate Dienst für ihre Mitmenschen zu leisten oder sich für den Erhalt der Umwelt einzusetzen. Und obwohl der Freiwilligendienst kaum propagiert wird, übersteigt die Anzahl der Bewerber bei weitem die zur Verfügung gestellten Plätze: Auf jede FSJ-Stelle kommt die doppelte Anzahl an Bewerbern, erklärte der zuständige Mitarbeiter in Claudia Noltes Ministerium gegenüber der Jungen Freiheit. Beim FÖJ ist dieses Mißverhältnis sogar noch auffallender: Um jeden FÖJ-Platz bewerben sich, so die Auskunft, "bis zu vier ernsthafte Bewerber".

Im Klartext: Obwohl nur die wenigsten Jugendlichen von der Existenz dieser Einrichtung wissen, ist die Bereitschaft zum freiwilligen Dienst im sozialen oder Umweltbereich weit größer als das Angebot. Das Prinzip "Freiwilligkeit" ist somit zukunftsfähiger als weithin angenommen.

Die Informationsbroschüre "Freiwilliges Soziales Jahr / Freiwilliges Ökologisches Jahr" ist kostenlos erhältlich über das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Rochusstraße 8-10, 53123 Bonn, Tel. 02 28 / 9 30-0.


 
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