© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/97  21. August 1997

 
 
Alternative: Fünf Millionen Sozialhilfeempfänger könnten sich selber finanzieren
Arbeitsdienst als Wertbegriff

von Kai Guleikoff

Im Zusammenhang mit den Aufräumungsarbeiten im Oderbruch stellt die Brandenburger Landesregierung in Potsdam Überlegungen an, Sozialhilfeempfänger zur Arbeit "aufzurufen". Im Gespräch sind bis zu 10.000 Bürger. Diskussionen zu derartigen Einsätzen sind seit etwa vier Jahren in Deutschland wieder stärker in das öffentliche Gespräch gebracht worden. Die bedrohliche Lage angesichts von gegenwärtig 4,4 Millionen offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen und etwa 5,5 Millionen Sozialhilfeempfängern verlangt (wieder einmal) nach schnellen und damit überschaubaren Lösungswegen.

Artikel 12 (2) des Grundgesetzes bestimmt zwar, daß "niemand zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden" darf, läßt aber die Ausnahme zu: "außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht". So neu sind diese Formulierungen im 20. Jahrhundert nicht. Sie beginnen mit dem Ende des Ersten Weltkrieges in Bulgarien. Mit dem Kriegseintritt vom 14. Oktober 1915 traten die "Preußen des Balkans" an die deutsch-österreichische Seite der Kriegsparteien. Im Friedensdiktat von Neuilly (27.11.1919) wurde Bulgarien die Durchführung der Wehrpflicht verboten. Um die Bindung der Jugend an den Staat nicht zu gefährden, wurde ersatzweise im Jahr 1921 die Arbeitspflicht eingeführt. Verantwortlich dafür zeichnete der Führer des Bulgarischen Bauernvolksbundes (BZNS) Stambuliski, der zu diesem Zeitpunkt dem Einparteienkabinett vorstand. Nach dem Pariser Friedensdiktat vom 7. Mai 1919 wurde auch Deutschland im Artikel 231 die allgemeine Wehrpflicht verboten. Auch hier wurde nun eine Alternative gesucht und im "Freiwilligen Arbeitsdienst" (FAD) gefunden. Bereits im Jahr 1913 hatten Vertreter der Freideutschen Jugend beim Jugendtag auf dem Hohen Meißner darüber diskutiert. Allerdings blieb die Zahl der Freiwilligen in den 20er Jahren und Anfang der 30er Jahre überschaubar. Die Nationalsozialisten erkannten frühzeitig den Erziehungswert für ihre angestrebte "Volksgemeinschaft". Hitler erklärte am 1. Februar 1933: "Der Gedanke der Arbeitsdienstpflicht gehört zu den Grundpfeilern des nationalsozialistischen Programmes." Zwei Jahre später, am 26. Juni 1935, trat das Reichsgesetz zur Umwandlung des FAD in den Reichsarbeitsdienst (RAD) in Kraft: "Alle jungen Deutsche beiderlei Geschlechts sind verpflichtet, im Reichsarbeitsdienst dem Volk zu dienen… die Arbeitsdienstzeit (wird) auf ein halbes Jahr festgesetzt." Der RAD wurde zu einer paramilitärischen Organisation, an ihre Spitze trat Oberst a.D. Konstantin Hierl. Gewaltige wirtschaftliche und ökologische Leistungen sind in kurzer Zeit verwirklicht worden. Die Zahl der Arbeitslosen sank von 4,3 Millionen im August 1933 auf 1,9 Millionen im Juni 1935. Nach dem Zusammenbruch des Reiches durch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht verstummte auf Jahrzehnte das Arbeitsdienstthema. Die 50er und 60er Jahre waren durch einen hohen Grad der Vollbeschäftigung gekennzeichnet. Auch die "Belegung" des Begriffs durch die Nationalsozialisten ließ jede Art von Arbeitspflicht zum Tabu werden. Die allgemeine Arbeitspflicht in der DDR paßte damit in das Feindbild einer Diktatur.

Heute wird nun wieder ernsthafter zum Thema gesprochen. Anknüpfungspunkt ist der Artikel 12 a des Grundgesetzes zur Wehr- und Dienstpflicht. Mit 340.000 Angehörigen ist die Bundeswehr heute auch ein stabilisierender Faktor des schwankenden Arbeitsmarktes. Jährlich bekommen etwa 30.000 Jugendliche die Möglichkeit, Zeitsoldat zu werden. An den Grundwehrdienst von zehn Monaten können 2 bis 13 Monate "angedockt" werden, die eine zusätzliche Entlastung des Arbeitsmarktes bedeuten. Die "Umkehr nach Weimar" zur Berufsarmee hätte weitere verschlimmernde Folgen für die nationale Beschäftigungspolitik. Trotz Beibehaltung der Wehrpflicht muß der Staat weitere "Beschäftigungsprogramme" zum Wohl der Gemeinschaft ins Leben rufen. Derartige Programme sind inzwischen nachweislich kostengünstiger als Maßnahmen zur Behebung der sozialen Folgen der Massenarbeitslosigkeit. Begonnen werden muß bei den Sozialhilfeempfängern und bei den gegenwärtig 216.000 Jugendlichen ohne Lehrstelle.

Körperliche und geistige Gesundheit vorausgesetzt, besteht nach Umfragen eine gute Bereitschaft zum Einsatz in den Sachgebieten Umweltsanierung und soziale Dienstleistungen. In der Bezahlung könnte der Mindestwehrsold von täglich 13,50 Mark als Grundlage genommen werden, bei freier Verpflegung und Unterkunft. Bei eigenem Wohnort könnte ein Mobilitätszuschlag von drei bis sechs Mark pro Tag gezahlt werden. Schrittweise kann dieses Modell auch allen Arbeitslosen als freiwilliger Dienst angeboten werden.


 
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