© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/97  15. August 1997

 
 
Rechtschreibung: Ernst Steppan über Unsinnigkeiten der angeblichen Regelvereinfachungen
"Eine Reform für Analphabeten"
Fragen: Gerhard Quast

 

Herr Steppan, die Befürworter der Reform argumentieren, daß die deutsche Rechtschreibung vereinfacht werden müsse. Erfüllt die beschlossene Reform diese Voraussetzung?

Steppan: Um die klare Antwort vorwegzunehmen, von einer Vereinfachung kann keine Rede sein. Wenn man die "Richtlinien zur Rechtschreibung, Zeichensetzung und Formenlehre" des Dudens aus dem Jahre 1991, 20. Auflage, mit dem neuen Regelwerk "Die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung", abgedruckt unter anderem im Duden von 1996, 21. Auflage, vergleicht, dann ist das keine Vereinfachung, es sei denn für Nichtleser und Nichtschreiber. Wenn wir "Kommunique´" am Ende mit "k" und zwei "e" schreiben, dann ist das für diejenigen, die das Wort nie gebrauchen, keine Vereinfachung, aber für diejenigen, die dieses Wort häufig gebrauchen, genausowenig. Also kann man bei der bisherigen Schreibweise bleiben. Die Änderung wäre also allenfalls eine Vereinfachung für diejenigen, die die Vereinfachung sowieso nicht benötigen. Auch die Trennungsregelung, daß "Ecke" in Zukunft "E-cke" getrennt werden soll, ist unsinnig. Das vereinfacht das Lesen überhaupt nicht, das behindert den Lesefluß. Wenn aber unter Vereinfachung folgendes verstanden wird, daß "wohldurchdacht/wohl durchdacht", so vereinfacht wird, daß man es in Zukunft grundsätzlich nur noch in zwei Worten schreibt, mag damit zwar eine Schreibweise wegfallen, aber es wird nicht mehr klar ersichtlich, welche der beiden ursprünglichen Bedeutungen gemeint ist, diejenige, die davon ausgeht, daß es gut durchdacht ist oder die, mit der man seine Zweifel äußern konnte, ob es tatsächlich durchdacht ist. Folgende Frage verdeutlicht dies: Ob die Reformer es wohl durchdacht haben, die wohldurchdachten guten alten Regeln über Bord zu werfen? An diesem Beispiel wird deutlich, daß die Reform keine Vereinfachung, sondern eine Verarmung der deutschen Sprache mit sich bringen wird. Bisher konnten wir durch die unterschiedliche Schreibweise genau differenzieren, was gemeint ist.

Sie sind also der Ansicht, daß das neue Regelwerk nicht durchdacht, und erst recht nicht wohldurchdacht ist?

Steppan: Ganz genau!

Es heißt aber, daß in Schulen bei Diktaten bis zu 30 Prozent weniger Fehler gemacht werden.

Steppan: Das neue Regelwerk betrifft nach Angaben, die ich nicht überprüft habe, einen sehr geringen Anteil der Wörter. Dieser Anteil kann nie dazu führen, daß Schulkinder tatsächlich einen großen Vorteil davon hätten, denn es handelt sich meistens um Wörter, die von den Grundschülern gar nicht zu schreiben sind. Und wenn diese zu schreiben wären, dann wäre das ein Mogeldiktat, das der Lehrer gemacht hat um zu beweisen, daß das neue Regelwerk einfacher wäre. Wenn tatsächlich das neue Regelwerk nur ein Prozent der Wörter tangiert, wie können da 30 Prozent weniger Fehler gemacht werden. Das ist absurd! Aber schlimmer noch ist, daß das Regelwerk an Stellen eingreift, an denen die deutsche Sprache sehr empfindlich ist.

Welche wären das?

Steppan: Mein Paradebeispiel, das ich selbst konstruiert habe, ist folgendes: "Ein fähnchenschwenkendes Grüppchen ging singend durch den Ort." Jetzt sollen sie schreiben: "Ein Fähnchen schwänkendes" Die deutsche Sprache ist nicht sehr geneigt zu produktiver Weiterentwicklung. Aber an dieser Stelle hat sie eine neue Wortart geprägt, ein Substantiv, dazu ein Partizip Präsens oder Partizip Perfekt. Das ist die Möglichkeit, neue Wörter zu schöpfen, das ist die Möglichkeit, die Ausdrucksformen zu erweitern. Aber gerade diese Möglichkeit wird durch das Zerreißen dieser Wortart vernichtet. Das ist übrigens eine Kritik, die bereits Professor Eisenberg geäußert hat, der selbst an einem Teilressort der Reform mitgearbeitet und sich dann aber von dem Gesamtergebnis distanziert hat, weil es so schlecht sei, daß - so wörtlich - "das Regelwerk sprachwissenschaftlich auf den Müll gehört".

Wie erklären Sie sich, daß zwar jahrelang über eine Reform der Rechtschreibung gesprochen wurde, das Ergebnis aber eher den Eindruck hinterläßt, die Reform sei übers Knie gebrochen worden?

Steppan: Man kann an bestimmten Stellen der Sprache nicht einfach Regeln machen. Die Differenzierung zwischen "wohldurchdacht" und "wohl durchdacht" ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn man hier feste Regeln anwendet, zwängt man die Sprache in ein festes Korsett. Man kann dem Volk nicht vorschreiben, daß es in Zukunft nicht mehr die Adjektive "metallverarbeitend", "kostensparend", "blutsaugend" oder "maßhaltend" verwenden soll. Diese Wortart ist in dem neuen Regelwerk zerrissen worden. Das Adjektiv "blutsaugend" soll künftig getrennt und durch "Blut saugend" ersetzt werden, "blutstillend" bleibt wie bisher, "maßhaltend" wird auseinandergerissen, "maßgebend" bleibt wie bisher, "kostensparend" wird auseinandergerissen, "kostendeckend" bleibt. Ist das nicht Wahnsinn? Man geht einfach an den Entwicklungsgesetzen der deutschen Sprache vorbei und hat etwas künstlich festgeschrieben. Diese Rechtschreibreform ist meiner Ansicht nach ein künstliches Werk.

Sie haben nicht nur einen qualitativen, sondern auch einen quantitativen Vergleich durchgeführt. Mit welchem Ergebnis?

Steppan: Es stimmt, ich habe eine Textumfanganalyse gemacht und festgestellt, daß das neue Regelwerk insgesamt um ein Viertel größer ist als das alte. Was die Kommaregelung betrifft, so wird eine Verringerung auf ein Sechstel suggeriert. Der Textumfang dieses Regelteils hat sich aber nur minimal verringert, auf knapp 90 Prozent des bisherigen Umfangs. Nun könnte man einwenden, daß es nicht auf die Quantität ankommt, sondern auf Inhalt und Qualität. Aber lesen Sie doch mal den Satz "Er sah den Spazierstock in der Hand tatenlos zu". Den finden Sie im Paragraphen 71 des neuen Regelwerks. Und nach diesem ist er "richtig", denn es stellt dem Schreiber frei, ob er hier Kommas setzen möchte oder nicht.

Aber für Vereinfachungen sind auch Sie?

Steppan: Wenn die neue Rechtschreibung tatsächlich eine sinnvolle Vereinfachung wäre, bei der man nicht vereinfacht um der Vereinfachung willen, sondern vereinfacht, was zu vereinfachen geht und dabei nicht falsche Bildungsinhalte erzeugt, dann wäre ich selbstverständlich auch dafür. Aber stattdessen holt man das sogenannte Stammprinzip hervor und möchte überall dort, wo ein Stamm mit "a" zu finden ist, in den abgeleiteten Wörtern "ä" schreiben. Das geht aber nicht. Dann müßten wir "Eltern" mit "ä" schreiben. Das stellen die Reformer zwar als Ausnahme hin. Aber es gibt noch viele andere Wörter, die wir dann mit "ä" schreiben müßten, die das neue Regelwerk aber nicht mit "ä" schreiben will. Wir müßten "denken" mit "ä" schreiben, weil es von "Gedanken" kommt, "sprechen" mit "ä" schreiben, weil es von "Sprache" kommt, Also dieses Stammprinzip kann überhaupt nicht konsequent durchgeführt werden, weil es unsinnig ist.

Ist das neue Regelwerk also in seiner Gesamtheit unsinnig?

Steppan: Also es gibt durchaus einzelne Elemente des Regelwerkes, die brauchbar wären, doch die Reform, so wie sie jetzt ist, muß gekippt werden. Und dann muß in Ruhe überlegt werden, was man wirklich an alten Zöpfen abschneiden kann.

Wieder durch eine neue Reform oder durch eine fließende Anpassung?

Steppan: Auf dem Regelwerk von 1901 beruhte unsere bisherige Rechtschreibung. Es hat aber seit 1901 mehr Veränderungen in der Orthographie gegeben, als diese Reform bringen würde. Aber diese Rechtschreibänderungen, die es gegeben hat, sind auf natürliche Weise entstanden: Die Duden-Redaktion hat dem Volk auf die Feder geschaut und dies dann berücksichtigt und angepaßt. Der Duden hat also jeweils festgeschrieben (oder: zur Kenntnis genommen), wie der überwiegende Teil des rechtschreibenden Volkes schreibt. Das war eine behutsame Anpassung an die Realität. Es ist keine Veränderung um der Veränderung willen, sondern eine Anpassung an das, was die Sprachgemeinschaft über Jahre hinweg entwickelt hat. Aber was haben die Reformer gemacht? Sie haben sich eine Schreibweise ausgedacht, wie man schreiben müßte, damit diejenigen, die sowieso kaum schreiben, jedenfalls nicht diese Begriffe, richtig schreiben würden. Die Reform ist also eine Reform für Analphabeten.


 
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