© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Gegen Volkes Wille
Kommentar
von Thorsten Thaler

Die Kultusminister waren sich ihrer Sache absolut sicher. "Wir entscheiden, und wir haben entschieden", lautete ihre stereotype Antwort auf Einwände und Bedenken einer stetig wachsenden Schar von Kritikern der umstrittenen Rechtschreibreform. Die Arroganz der Kultusminister, urteilte jüngst die taz sicher zutreffend, "hatte vordemokratischen Charakter und glich dem Habitus mittelalterlicher Fürstenhäuser." Doch jetzt drohen die Bürokraten mit ihrer ungeliebten Reform auf die Nase zu fallen.

Auslöser für den neuerlich entbrannten Streit um die Rechtschreibreform ist ein Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom Dienstag vergangener Woche. Die Richter stoppten auf Antrag eines Vaters aus Marburg bis auf weiteres die Umsetzung der ungeliebten Reform. Zur Begründung führten sie an, bei der Neuregelung handele es sich um eine "so wesentliche Änderung von Bildungszielen", daß dafür ein förmliches Gesetz erforderlich sei.Daß in den Tagen darauf die Verwaltungsgerichte in Weimar und Mainz gegenteilige Entscheidungen fällten, macht das Chaos vollkommen. Nunmehr wird über kurz oder lang das Bundesverfassungsgericht den Streit um die Rechtschreibreform höchstrichterlich beilegen müssen. Dabei ist der Ausgang des Verfahrens durchaus offen. Der Präsident der Kultusministerkonferenz, Rolf Wernstedt (SPD), hat sich vorsorglich schon mal eine Argumentation für die Rückzugsgefechte der Reformbefürworter zurecht gelegt. Wenn das Gericht zu einer anderen Rechtsaufassung komme, "haben wir uns eben geirrt, das ist keine Schande".

Eine Schande ist es freilich, daß es überhaupt soweit kommen mußte. Spätestens seit in acht Bundesländern erzürnte Bürger Vorbereitungen für ein Volksbegehren gegen die Reform treffen, kann an Volkes Wille kaum mehr ein Zweifel bestehen. Dafür spricht auch der Umstand, daß in zehn Bundesländern besorgte Eltern schulpflichtiger Kinder den Klageweg beschreiten, um die Rechtschreibreform auf diesem Weg zu stoppen. Wie weit muß die eine Realitätsverweigerung fortgeschritten sein, wenn Verleger von Schulbüchern jetzt behaupten, es sei "eine Unverschämtheit dieser Eltern, ihre Kinder in solche Verwirrung zu stürzen"? Oder wenn aus der gleichen Ecke heraus nach der bewährten Haltet-den-Dieb-Methode versucht wird, die Medien für die "hochgradige Unsicherheit" verantwortlich zu machen?

Von dem deutschen Schriftsteller Hans Kudszus (1901–1977) stammt der Aphorismus: "Schreiben heißt einen Gedanken in Starrkrampf versetzen. Lesen heißt den Starrkrampf lösen." Damit beide Tätigkeiten – Schreiben wie Lesen – nicht schon bald zum puren Krampf werden, bedarf es weiterer Anstrengungen.


 
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