© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Rekurs auf die Nation: Zur Abwehr einer Politik der Vermoralisierung
Nationale Wirklichkeit
von Bernard Willms

Die Nation ist (...) nicht ohne eine bewußte Rückbeziehung auf sich selbst zu bestimmen: Sie ist ja als Idee das Sich-Durchhalten eines politisch organisierten oder nach politischer (Selbst-)Organisation strebenden Volkes in der Zeit. Selbstwußtsein als Moment des nationalen Selbstbehauptungswillens oder nationale Identität als lebendiges Bewußtsein ist das wichtigste Moment der Nation, die, philosophisch gesprochen, ein Paradigma von Totalität ist.

Es ist durchaus sinnlos, hier Überlegungen über "Idealismus und Materialismus" anzustellen oder über "Sein und Bewußtsein" oder über "Basis und Überbau". Insofern Wirklichkeit menschliche Wirklichkeit ist, ist sie von objektiver Notwendigkeit bestimmt, aber als menschliche stellt sie sich erst her in der Art und Weise der menschlichen Reaktion auf jene Notwendigkeit. Selbst objektive Gegebenheiten wie geographische Lage oder die Tatsache, von anderen Nationen umlagert zu sein, sind unabhängig von der mehr oder weniger bewußten Reaktion darauf nicht bestimmbar. Wie viel mehr trifft dies für die eigene Geschichte zu, deren Bewußtsein ja für die Verwirklichung von Nation als Selbstbehauptung in Raum, Zeit und Umwelt grundlegend ist: Nationale Wirklichkeit ist notwendigerweise und unausweichlich Geschichte. Dabei spielt Länge und Breite der konkreten geschichtlichen Erfahrung selbstverständlich eine Rolle für die jeweilige Regung des nationalen Bewußtseins. Prinzipiell von Bedeutung ist jedenfalls stets der denkende Bezug, das historische Bewußtsein als lebendige Identität: "Dies sind wir".

Stellenwert des Identitätsbewußtseins

Keinerlei Lebensäußerungen von Nationen in Geschichte und Gegenwart sind ohne Selbstbewußtsein möglich, kein Zustand kann verändert oder auch nur bewahrt werden ohne ein nationales Selbstwußtsein. Es ist von äußerster Wichtigkeit, zu sehen, daß es in diesem Bereich von nationaler Wirklichkeit, von nationaler Selbstbehauptung und nationaler Identität um Grundlegungen geht, die aller gesellschaftlichen Wirklichkeit und Entwicklung vorausliegen. Es existiert keine Denkebene, von der aus die Verwirklichung der Idee der Nation einem moralisierten Urteil unterworfen werden könnte. Das Problem der konkreten Existenz von Menschen ist nicht moralisierbar, es sei denn, man fingiert einen göttlichen Standpunkt, der der Menschheit gegenüberliegt (...).

Da Menschen existieren, müssen sie auch als Menschen existieren, d.h. sie müssen sich politisch organisieren, und die historische Gestalt dieser Notwendigkeit ist der Nationalstaat (...): Konkrete Ganzheiten sind als Gemeinschaften der Grund jeder Möglichkeit der Entwicklung von Moral überhaupt. Dies ist ebenso der Grund des berühmten angelsächsischen Right or wrong, my country, in dem ausdrückt ist, daß nationale Selbstbehauptung, insofern sie Wirklichkeit ist, nicht der individuellen moralischen Beurteilung unterliegen kann, wie der Grund von Carl Schmitts "Begriff des Politischen", den dieser als "Unterscheidung von Freund und Feind" vom Bereich des Moralischen strikt unterschied. Es gibt keine Denkmöglichkeit der Moralisierung von historischen Prozessen, in denen politische Subjekte, also die Nationen, agieren, weil es keine Denkmöglichkeit gibt, irgendeiner Nation ihr Dasein zu bestreiten. Dies ist der Sinn der Begriffe von Souveränität und Identität, zu denen man sich von innen her in einer Entscheidung, von außen jedoch nur in Anerkennung oder Nichtanerkennung, keinesfalls aber in einer "Vermoralisierung" (Nietzsche) verhalten kann (...).

Es ist heute durchaus notwendig, daß die Nationen lernen, ohne kriegerische Gewaltanwendung miteinander umzugehen, aber Selbstbehauptung ist nicht möglich, wenn sie nicht entschieden festgehalten wird. Eine Nation kann sich nicht einer moralischen Verurteilung unterwerfen, weil es auf der Welt nur Nationen gibt: Unterwirft sie sich einer moralischen Verurteilung, so unterwirft sie sich anderen Nationen. Oder sie war schon von ihnen unterworfen, was das Schicksal der deutschen Nation ist.

In der Reflexion dieser Niederlage (1945; Anm. d. Red.) ist es sinnvoll und wichtig, Überlegungen anzustellen, was "falsch" oder "richtig" gewesen ist, aber es ist eindeutig, da hier ausschließlich im Sinne der nationalen Selbstbehauptung geurteilt werden kann. Kategorien der Lagebeurteilung, der Fehleinschätzungen nationaler Ressourcen oder der Gegner können ins Spiel gebracht und dies alles kann und muß analysiert werden. Ganz unsinnig ist jedoch die Deutung der Niederlage selbst im Sinne eines: "Recht ist uns geschehen, wir taugten ja auch nichts." Die Politik der Vermoralisierung in diesem Sinne ist eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln und deshalb von der psychologischen Kriegsführung der Gegner her durchaus verständlich.

Unnsinige Deutungen der Niederlage 1945

Sie waren daran interessiert, weil die akzeptierte Vermoralisierung im Sinne eines Schuldigsprechens der Deutschen als Deutsche diese erst endgültig besiegen, intentional als Deutsche "unmöglich" machen, also ihre Identät und damit sie selbst endgültig zerbrechen sollte. Sich darüber zu entrüsten ist müßig, nicht freilich, sich dagegen zu wehren. Dieser Angriff auf die Identität der Deutschen als Deutsche ist eine Kriegshandlung gewesen wie die Teilung des Territoriums: Hier geht es nicht um Recht und schon gar nicht um Moral, sondern um nationale Selbstbehauptung, Kampf um sich selbst, um jene nationale Identität, ohne die kein Volk existiert.

Der Krieg ist verloren worden, weil dem gewaltsamen Zugriff schließlich materiell nichts mehr entgegenzusetzen war. Dem Angriff auf die Identität durch das Ingangsetzen eines permanenten Prozesses des moralischen Wütens gegen sich selbst ist um so mehr entgegenzusetzen, als es sich um Bewußtseinsphänomene handelt. Eine Nation kann mit Gewalt vernichtet werden, und sie kann sich auch selbst zerstören, aber noch leben wir. Alle Welt lebt aber in nationaler Identät oder im Kampf darum. Wollen wir leben, so müssen wir Deutschen als Deutsche leben: Wir können es uns nicht aussuchen (...).

Die Lage der Nation wird stets bestimmt von äußeren Faktoren, inneren Faktoren und dem Bewußtsein von diesen. Nichts ist je einfach gegeben, und selbst sogenannte "Realitäten" müssen nicht ankannt werden. Der grundlegende innere Faktor, der jedenfalls im Verfügungsbereich der Nation liegt, ist ihr Identitätsbewußtsein. Die Besinnung auf die Lage der Nation muß deshalb hier anfangen. Identität stellt sich zeitlich her in dem bewußten Verhältnis zur eigenen Geschichte. Die Argumentation hat zeigen sollen, daß die Voraussetzung dieses Bewußtwerdens jeden Falls die Abwehr der Moralisierung der eigenen Geschichte ist. Eine Voraussetzung für das Bewußtsein nationaler Identität ist für die Deutschen eine revidierte Geschichtsschreibung, die ihre Identitätsvergessenheit systematisch wegzuarbeiten versucht.

 

Bei dem Beitrag handelt es sich um einen leicht gekürzten Auszug aus dem Hauptwerk von Bernard Willms: "Die Deutsche Nation. Theorie – Lage – Zukunft" (1982). Prof. Willms (1931–1991) lehrte Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.


 
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