© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/97  08. August 1997

 
 
Ein Alt-Europäer: Zum 100. Todestag des Historikers Jakob Burckhardt
Betrachter der Weltgeschichte
von Frank Lisson

"Warum nicht in einfachere, schönere Zustände flüchten, wenn sie noch irgendwo vorhanden sind? Ich wenigstens bin gesonnen, noch einmal, ehe die bösen Tage kommen, meine Art von Leben zu genießen." – Worte eines jungen Mannes, der zeitlebens den Wunsch hatte, sein Leben der Kunst und der Wissenschaft zu verschreiben.

Jacob Burckhardt, geboren am 25. Mai 1818, entstammte einer alten, angesehenen Basler Patrizierfamilie. Als Sohn eines Pfarrers kam er früh in den Genuß geisteswissenschaftlicher Bildung, die ihn, auf Wunsch des Vaters, zunächst zum Studium der Theologie, dann zur Geschichte, Philologie und Kunstwissenschaft führte. Nach der Promotion und Habilitation 1844 lehrte er als Professor kurzzeitig an der Universität Zürich, dann bis ins hohe Alter hinein in seiner Heimatstadt Basel Kunstgeschichte und Geschichte.

Der Augenmensch Burckhardt, der leidenschaftlich gern reiste, entdeckte seine Liebe zu der Kunst des Altertums und der Renaissance in Italien. Sein großes zeichnerisches Talent half ihm dabei, die Eindrücke bildlich festzuhalten. Doch verarbeite er das Gesehene mehr produktiv als reflektierend, denn neben der Gabe des Zeichnens hatte er eine Neigung zur Dichtkunst. Lange Zeit blieb er unentschlossen, ob er Historiker oder Schriftsteller werden sollte. Schließlich wurde er wohl beides. Aus dieser Kombination heraus entstanden seine berühmtesten und bis heute richtungsweisenden Werke wie "Cicerone", eine Art Reiseführer mit dem Untertitel "Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens", ferner die "Kultur der Renaissance in Italien", oder die posthum veröffentlichte "Griechische Kulturgeschichte", in der ein eigenwilliges wie geistreiches Bild der Polis entwickelt und der griechische Pessimismus als wesentlicher Aspekt der hellenischen Kultur erstmals betont wird.

In den aus mehreren Vorlesungen hervorgegangenen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" legt er seine kulturhistorischen Anschauungen dar: der sich im eigentlichen immer gleich verhaltende "duldende, strebende und handelnde Mensch" ist Bestandteil der drei großen "historischen Potenzen" Kultur, Staat und Religion, die als geschichtliche Konstanten das Wesen aller Geschichte bilden. Buckhardt litt am Niedergang des deutschen Idealismus und stand der politischen Entwicklung seiner Zeit mit großer Skepsis gegenüber. Massendemokratie, sozialistische Agitatoren und profitorientierter Liberalismus waren ihm Symptome eines politischen Verfalls. "Seit der Pariser Kommune ist überall in Europa alles möglich, hauptsächlich deshalb, weil überall gute, vortreffliche, liberale Leute vorhanden sind, welche nicht genau wissen, wo Recht und Unrecht sich abgrenzen und wo die Pflicht von Widerstand und Gegenwehr beginnt."

Er sah das Zeitalter der Diktaturen und politischen Radikalismus für Europa voraus, die "terribles simplificateurs", welche allerdings nichts mit seinen verklärten "großen Individuen", den "Renaissance-Herrschern" gemeinsam hatten, die unter anderen auf das Denken Nietzsches großen Einfluß hatten.

Buckhardt fürchtete, daß "Alt-Europa" an den modernen Parteienkämpfen, kulturell ermüdet und verschlissen, endgültig untergehen werde, und daß am Ende dieser Kämpfe, wie er scharfsichtig voraussah, eine korrumpierte Demokratie stehen müsse: "Die Massen wollen Ruhe und Verdienst", heißt es in den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen".

Dennoch war er alles andere als ein politischer Mensch, viel zu sehr Ästhet, als daß er sich an der Politik direkt beteiligt hätte. Sein Konservatismus muß als eher liberal und idealistisch gesehen werden. Verachtung empfand er sowohl für den vormärzlichen Absolutismus wie für die Revolutionäre, die ihn abzuschaffen bemüht waren. Für Burckhardt durften sich Veränderungen nur evolutionär vollziehen, wenn sie nicht bloß subversiv sein wollten.

Die zunehmende Diskrepanz zwischen Staat und Gesellschaft, in der sich der von Burckhardt postulierte Gegensatz von Macht und Kultur widerspiegelt, glaubte er besonders im kaiserlichen Deutschland zu sehen. Deshalb war sein Kulturpessimismus nicht grundsätzlicher Art, sondern an historische Konstellationen gebunden. Es blieb eine Hoffnung auf Wiedergeburt der Kultur in fernerer Zukunft.

Sein Denken blieb bis zum Schluß dem "alten" Europa verpflichtet: äußere Bedürfnislosigkeit, stärkste Betonung des Geistigen gegenüber dem Materiellen, strenger Dienst am Schönen und Guten als Lebensideal. Mit Jacob Burckhardt starb am 8. August 1897 eine tragische Figur, die die Ängste und den Pessimismus, aber auch das Sehnen und Hoffen des 19. Jahrhunderts in sich trug wie kaum ein anderer der großen Gelehrten jener Zeit.


 
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