© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31/32/97  25. Juli/ 01. August 1997

 
 
Globalisierung: Arm und Reich driften auseinander
Verlierer des Booms
Meinungsbeitrag
von Alain de Benoist

Das schnelle Wirtschaftswachstum der westlichen Wirtschaftsriesen und die Integration des früheren Proletariats in die Mittelklassen haben noch unlängst die Hoffnung genährt, daß die Armut bald endgültig ausgerottet werden könnte. Seit fünfzehn Jahren ist diese Hoffnung verflogen. Man zählt heute fünf Millionen tatsächliche Arbeitslose in Frankreich. Das Niveau des Lebensstandards der Haushalte von jungen Leuten unter 25 Jahren hat sich in den Jahren von 1989 bis 1994 um mehr als 15 Prozent verringert. Tatsächlich sind es sechs Millionen Personen (10% der Gesamtbevölkerung), die am Rande des Existenzminimums leben. Und diese neuen Armen werden zugleich immer jünger und immer ärmer.

Diese neue Armut unterscheidet sich von derjenigen, die man aus der Vergangenheit kennt. Die gegenwärtigen Ungleichheiten seind nicht mehr lediglich strukturelle Ungleichheiten zwischen verschiedenen wohldefinierten sozialen Gruppen, sondern sind im Inneren jeder einzelnen sozialen Gruppe vorhanden, wo sie Spannungen verursachen, die vormals das Ergebnis von Rivalitäten zwischen den Gruppen gewesen ist. Es sind Ungleichheiten, die ihre Kategorien innerhalb dieser Gruppen erhalten, die heute immer wichtiger werden. Der Ausschluß der Armen schließlich bezieht sich nicht mehr auf eine Klasse als ganze, sondern ist ein Prozeß, der alle sozialen Gruppen einbezieht, die Mittelkasse eingeschlossen. Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung jedoch hat diese Ausgeschlossenen mehr und mehr zu unnützen Mitgliedern der Gesellschaft und zu Kostenfaktoren degradiert. In traditionellen Gesellschaften hatte jeder seinen ihm zugewiesenen Platz. Heute bildet der Rest einen Teil der Gesellschaft - dieselbe Gesellschaft, die fortgesetzt die Menschenrechte kommentiert -, der anscheinend dazu verdammt ist, überflüssig zu werden.
Die Situation auf der internationalen Ebene ist ähnlich. In Osteuropa hat sich die Anzahl der unterhalb der Armutsgrenze Lebenden von 4 Millionen im Jahr 1987 auf heute etwa 120 Millionen erhöht. Die industrialisierten Länder zählen ihrerseits 100 Millionen Arme, 37 Millionen Arbeitslose und 5 Millionen Obdachlose. Was die Globalisierung des Handels anlangt, so vergrößert sie die Ungleichheiten, anstatt sie zu verringern: das Verhältnis zwischen den 20 Prozent der Ärmsten und den 20 Prozent der Reichsten der Menschheit, das 1960 1:30 betrug, hat 1995 das Verhältnis von 1:78 erreicht. Und die Entlohnung eines amerikanischen Generaldirektors ist heute durchschnittlich 173mal höher als die eines seiner Mitarbeiter!

Bedroht vom ausbleibenden Wachstum, werden auch die Arbeitsplätze vom technischen Fortschritt zerstört. Hervorgebracht von Ökonomien kolossalen Ausmaßes, die immer mehr Güter und Dienstleistungen mit Hilfe von immer weniger Menschen hervorbringen. Hinzu kommen noch die Folgen der Globalisierung - nicht so sehr die des Handels, sondern die des Kapitals. Es ist in der Tat die Höhe der Gewinne, die in der Finanzsphäre gemacht werden, die die erforderliche Rentabilität des investierten Kapitals in der realen Wirtschaft festlegen. So verschärft die Globalisierung eine neue Form der Konkurrenz zwischen den Nationen: um internationales Kapital auf ihr Territorium zu ziehen, das die Tendenz hat, nur dort zu investieren, wo es die besten Renditen gibt, streiten sich die Länder zunehmend über die Löhne, die Steuer- und Sozialgesetzgebung. Die allgemeine Suche nach kurzfristigen Profiten bei der Industrie entspricht der Notwendigkeit, aus dem Kapital ebenso optimale Konditionen herauszuholen wie aus den Finanzplätzen - und sei es um den Preis eines Sozial-Dumpings. Die Globalisierung erscheint so als Ideologie des wirklichen sozialen Wandels, die darauf zielt, alles verschwinden zu lassen, was sich auf dem markt nicht rentiert.

In der Tat wollen die Theoretiker des Einheitsdenkens nicht zugeben, daß der Arbeitsmarkt nicht wie ein Markt der Waren funktionieren kann. Ganz einfach deshalb nicht, weil die Arbeit, die ja nicht eine Ware wie alle anderen ist, eine psychologische und eine soziale Dimension besitzt. Daran hat der Träger des Wirtschaftsnobelpreises, Robert Solow, erinnert, als er feststellte, daß derArbeitsmarkt auch eine soziale Institution sei und der Lohnsatz, da er eine doppelte Rolle als Produktivfaktor und einfacher Kostenfaktor besitzt, nicht imstande sei, spontan Angebot und Nachfrage auszugleichen. Zu glauben, man könne den Arbeitsmarkt wettbewerbsmäßiger gestalten, wenn man ihn "dereguliere", kann in eine Sackgasse führen: Die Flexibilität, oft als optimale Anpassung der Arbeitskraft an die wechselnde Nachfrage angepriesen, hat nur in den Bereichen Sinn, in denen es eine elastische Nachfrage gibt und die wenig in das menschliche Kapital investiert.
Sicher: es wird immer Ungleichheiten in der Gesellschaft geben, aber wenn diese eine bestimmte Schwelle überschreiten, werden sie untragbar. Auch der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft stellt ein Kapital dar, was im Hinblick auf die Produktivität oft genug aus den Augen verloren wird. Dieses Kapital wird zur Zeit derart unterminiert, daß dies zu einer Gefahr für den sozialen Frieden werden kann.


 
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