© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/97  18. Juli 1997

 
 
Nato: Die interessierten Dritten der Osterweiterung
Historische Fragen
Meinungsbeitrag von Franz Uhle-Wettler

Im Jahr 1985 lud eine deutsche Panzerdivision zu ihrem Neujahrsempfang am 18. Januar ein. Der Kommandeur der amerikanischen Partnerdivision rief sofort an: An diesem Tag käme er besonders gern. Die französische Partnerdivision hingegen ließ wissen, am Gründungstag des deutschen Reiches werde sie nicht kommen können. Nur im deutschen Divisionsstab hatte es keine Reaktion gegeben. Der 18. Januar war unbekannt. Andere Völker kennen unsere Geschichte oft besser als wir.

Was das mit der NATO-Osterweiterung zu tun hat? Dieses: Wir denken ideologisch und Geschichte besteht nur aus den bekannten zwölf Jahren. Und nachdem wir uns (angeblich?) auf dem "deutschen Sonderweg" fehlentwickelt hatten, haben wir 1945 unsere Lektion gelernt und ruhen nun still und fügsam am Busen der Westlichen Wertegemeinschaft. Peinlich nur, daß andere Völker historisch und politisch, also in Jahrhunderten denken. Das ermöglicht manches, vor dem der Bundesbürger die Augen verschließt. Auch in Bezug auf die NATO.

Als der Warschauer Pakt verendete, forderten die USA fast ultimativ den Fortbestand der NATO. Nur die NATO ermöglicht es ihnen, Truppen fast überall in Europa zu stationieren. Sie gibt ihnen zugleich einen massiven Einfluß auf alle NATO-Staaten. Mithin haben die USA natürlich die NATO bald erweitern wollen, wie stets von der gehorsamen Bundesrepublik unterstützt.
Ein zweiter Zweck trat hinzu. 1991 schrieb immerhin Time Magazine, ganz Washington sei sich in einem Punkt einig, den allerdings kein Amtsträger öffentlich aussprechen würde: Deutschland muß im Westen "verankert" bleiben, und man verankere Schiffe mit einer "langen, eisernen Kette" um sie so in "wohlwollender Gefangenschaft" zu halten. 1992 verkündete Frau Thatcher öffentlich, bisher habe die NATO vor den Sowjets schützen müssen, in Zukunft aber vor den Deutschen. Sehr ähnlich äußerte sich 1992 und 1993 Henry Kissinger sogar in deutschen Zeitungen. Das läßt erahnen, was in den Amtsstuben besprochen wird.

So ist es kaum Zufall, daß mit Polen, Tschechien und Ungarn diejenigen Staaten aufgenommen worden sind, die am wenigsten bedroht werden. Es sind eben diejenigen Staaten, die in den eigenen Einfluß zu ziehen am meisten lohnt. Und "zufällig" sind es auch diejenigen Staaten, die den deutschen Sprachraum von der Ostsee bis fast zur Adria nach Osten abgrenzen. Ob und wie stark dieser Zweck bei der Osterweiterung mitgespielt hat, weiß nur derjenige, der Clinton, Albright und Cohen ins Herz schauen kann. Diese Frage ist auch nicht sehr wichtig. Wichtig ist die Tatsache, daß das deutsche polititsche Klima kaum erlaubt, solch "ungehörige" Fragen aufzuwerfen. Für unsere politische Klasse ist es kaum noch vorstellbar, daß es Nationen gibt, die kühl ihre Interessen vertreten und dabei in Jahrhunderten denken so wie jene Divisionskommandeure, wie Frau Thatcher und Henry Kissinger.

Wir hingegen denken ideologisch. Folglich werden wir die unabdingbaren praktischen Folgen der Osterweiterung gering schätzen. Wem nutzt sie? Nutzt sie Deutschland? Wenn ja: wie stark? Wird die Integrationsfähigkeit und damit die Handlungsfähigkeit der NATO überfordert werden? Eher ist wahrscheinlich, daß wir auch die mitteldeutschen Verbände der Bundeswehr in ein multinationales, vermutlich deutsch-polnisch-tschechisches Korps einbringen und dort "verankert" sehen. Das ermöglicht endlich die Stationierung tschechischer und polnischer Soldaten in Deutschland. Der deutsche Michel wird keine Fragen stellen. Bis er wieder historisch und politisch denkt. Wie andere Völker auch.

Dr. Franz Uhle-Wettler, Generalleutnant a. D., war bis 1987 Leiter der NATO-Verteidigungsakademie in Rom

 
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